LENOS
×
www.lenos.ch
Lenos Verlag
Yvette Z’Graggen
Deutschlands Himmel
Aus dem Fransischen
von Regula Renschler
Die Übersetzung aus dem Französischen wurde unterstützt durch
Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung.
Die Übersetzerin
Regula Renschler, geboren 1935 in Zürich. Studium der Romanistik
und der modernen Geschichte in Zürich. Tätigkeit als Auslandredakto-
rin bei verschiedenen Tageszeitungen, während zehn Jahren als Sekretä-
rin der Erklärung von Bern und ab 1985 als Redaktorin bei Schweizer
Radio DRS. Übersetzte u.a. Weder arm noch ohnmächtig von Axelle Kabou
sowie Die Erfahrung der Welt und Blätter von unterwegs von Nicolas
Bouvier.
Titel der französischen Originalausgabe:
Ciel d’Allemagne
Copyright © 1996 by Editions de l’Aire, Vevey
Erste Auflage 2011
Copyright © der deutschen Übersetzung
2011 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Umschlagfoto: Erling Mandelmann, www.erlingmandelmann.ch
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 414 7
»Wo Deutschlands Himmel die Erde schwärzt,
sucht sein enthaupteter Engel ein Grab für den Hass
und reicht dir die Schüssel des Herzens.«
Ingeborg Bachmann, Früher Mittag
7
1
Der Schatten eilt, winzig klein, über Felder, pft über
Flüsse, berührt die Wipfel der Bäume, einem Käfer gleich,
der unter der blassen Februarsonne spazieren geht. Dann
wird der Schatten grösser, stürzt in den Verkehr der breiten
Strassen, streift Busse und Autos, schlängelt sich an den Ge-
bäuden vorbei oder geht durch sie hindurch. Ich habe Angst
um diesen unvorsichtigen Schatten, dass er sogar die Mauer
überqueren könnte, wenn es sie noch gäbe. Die Mauer exis-
tiert nicht mehr, dort stehen jetzt Gebäude, eines her als
das andere, mit Kaminen, an denen der Schatten zerbersten
nnte. Er wird grösser, der fer gleicht jetzt einem Och-
sen, wenige Sekunden später einem Elefanten ohne Rüssel. Er
nähert sich uns oder eher wir uns ihm, der Zusammenstoss
scheint unausweichlich. Den Kopf an das Flugzeugfenster
gelehnt, erwarte ich den Schock, die Gewalt der Explosion.
Doch alles geht ruhig und mit Bedacht vor sich. In still-
schweigender Übereinkunft oder nach alter Gewohnheit
berühren sich Schatten und Flugzeug, sie vereinen sich,
gehen ineinander über, die Räder streifen den Boden. Der
Schatten verschwindet, das Flugzeug rollt über die Piste des
Flughafens Tegel.
Zum fünften Mal innerhalb eines Dutzend Jahren lande
ich in Berlin.
Ich bin mit einer ganz bestimmten Absicht hierherge-
kommen: mit Intellektuellen und Künstlern in beiden Tei-
len der Stadt Kontakt aufzunehmen und sie nach den Folgen
der Wiedervereinigung für sie zu befragen. Ein einfaches
8
Vorhaben, das ich bis in das kleinste Detail ausgearbeitet
habe: Ich habe ein kleines Aufnahmegerät bei mir, meine
Gesprächspartner werden meine Fragen beantworten, dann
werde ich die Antworten abtippen, und später soll daraus
ein Buch über dieses heikle Thema werden.
Aber bevor ich anfange, brauche ich noch ein wenig Zeit.
Ich muss die Luft der Stadt atmen, mich ein wenig umse-
hen, die Menschen beobachten, in Warenhäuser und Re-
staurants gehen, die Veränderungen wahrnehmen, die sich
seit meinem letzten Aufenthalt hier im Frühling 1994 er-
geben haben.
Damals gab es überall da, wo die Mauer gestanden hatte,
weite, düstere leere Flächen. Der Potsdamer Platz, einst ei-
ner der schönsten Plätze Europas, war nur noch ein ödes
Areal, auf dem verrostete Autowracks, alte Tanks und not-
dürftig aufgestellte Zelte standen, in denen Obdachlose
hausten. Hinter dem Reichstag, in der Nähe des Pariser
Platzes, wurde von fliegenden Händlern allerlei Krempel
schwarz verkauft: tzen der Roten Armee, alte Unifor-
men, militärische Auszeichnungen.
Vier Jahre früher, im rz 1990, schlängelte sich die
teilweise zersrte, nunmehr durchlässige Mauer noch zwi-
schen den Gebäuden hindurch. Händler verkauften Mauer-
stücke, echte und falsche, und Menschen aus dem Osten
erkundeten gernd das Gebiet, das zu betreten ihnen so
lange verboten gewesen war, und entdeckten endlich das
Gelobte Land, von dem sie geträumt hatten.
In den Jahren 1983 und 1984 war die von Graffiti über-
säte Mauer eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten Ber-
9
lins. Busladungen von Touristen kamen, um sie zu bestau-
nen. Man bestieg eine Aussichtsplattform, betrachtete das
leere Gelände und die Polizisten mit ihren Schäferhunden
und beglückwünschte sich heimlich, dass man auf der »gu-
ten Seite« gelandet war; nach dem Abstieg kaufte man Sou-
venirs in kleinen Buden, die allenthalben aufgestellt wor-
den waren und hier gute Geschäfte machten. Die Berliner
Mauer war ein must, wie die Chinesische Mauer, der Grand
Canyon oder der Mont Saint-Michel, mit dem Schaudern als
Zugabe, dass man sich bis an die Grenze einer unbekann-
ten, furchteinflössenden Welt gewagt hatte.
Meine Recherchen können warten, ich bin nicht unter
Druck. Von der Pension am Kurfürstendamm aus, wo ich
abgestiegen bin, erkunde ich die Stadtquartiere im Osten.
Ich sehe die Baustellen, die Hunderten von Kranen, die auf-
gerissenen Gräben, die Gerüste, die Rohre in der offenen
Kanalisation, die Bagger; ich studiere die Plakate, die zei-
gen, wie Berlin im Jahr 2000 aussehen soll Hochhäuser,
oberirdische Schnellbahnen, Hängebrücken, Autobahnen,
die übereinanderliegen , eine Megalopolis, die imstande
sein würde, New York Konkurrenz zu machen. In der Nähe
des Oranienburger Tors, in den noch nicht vom Abriss- und
Wiederaufbaufieber erfassten Stadtteilen, sehe ich unebene
Trottoirs, graue Hausfassaden, kleine, verlassene Läden.
In der Friedrichstrasse, wo man eben eine Zweigstelle der
luxuriösen Galeries Lafayette eröffnet hat, sehe ich einen
notdürftigen Unterschlupf, wo sich ein paar Jugendliche an
einem Grill die Hände wärmen. Ich gehe traurige, beinahe
menschenleere Strassen entlang: Liegt es nur an der Kälte,
10
dass die Leute zu Hause bleiben? Selbst in der berühmten
Allee Unter den Linden ist fast niemand zu sehen, nur we-
nige Passanten eilen die Strasse entlang, darauf bedacht, den
um die Löcher in den Trottoirs aufgestellten Sperren auszu-
weichen. Ich komme mit einem Taxichauffeur ins Gespräch,
der aus dem Osten stammt und vor der Wiedervereinigung
als Elektroingenieur gearbeitet hat. »Die Mauer ist immer
noch in den pfen der Menschen«, sagt er, »es wird lange
dauern, bis sie aus ihnen verschwunden sein wird.«
Ich lese die Zeitungen. Ein Defizit von 31,8 Milliarden
D-Mark allein in Berlin, Einsparungen im sozialen und kul-
turellen Bereich, die Abneigung des Landes Brandenburg
gegen eine Fusion mit der »Kommune« Berlin (dieser Aus-
druck des Finanzministers von Brandenburg hat die Berli-
ner, die so stolz sind auf ihre Stadt, empfindlich getroffen),
die Prozesse gegen Egon Krenz und Günter Schabowski,
Krenz, der dagegen protestiert, dass er der »Siegerjustiz«
unterworfen werde, Schabowski, der nach einigen spekta-
kulären Auftritten seine Fehler eingesteht.
1
Mir wird immer klarer, dass der Westen das ehemalige
Ostberlin und zweifellos die ganze DDR schlicht und ein-
fach »kolonisiert« hat, indem er alles, was dort während
vierzig Jahren gedacht, erreicht und errichtet worden war,
weggefegt hat. Weggefegt die wenigen Errungenschaften
des Kommunismus, niedrige Mieten und billige öffentliche
Verkehrsmittel, genügend vorhandene Krippenplätze, Thea-
tereintritte, die sich jeder leisten konnte. Wie immer haben
die Reichsten und Mächtigsten ihre gesellschaftlichen Vor-
stellungen durchgesetzt, mit der Folge, dass die Bürger des
Ostens für die Freiheit, die sie so sehr herbeigesehnt und für
11
die sie sich starkgemacht haben, einen hohen Preis bezah-
len: den Verlust ihrer Identität. Als Bürger zweiter Klasse,
in den Augen ihrer wiedergefundenen »Brüder«, fühlen sie
sich gedemütigt und noch unfähig, sich mit Wettbewerbs-
geist und Profitdenken anzufreunden, die das Ideal von
Solidarität und Brüderlichkeit, in das sie ihre Hoffnungen
gesetzt hatten, abgelöst haben, ein Ideal, das zwar von ihren
Machthabern verraten wurde, aber was ist an seine Stelle
getreten? Der Materialismus der Konsumgesellschaft, der
struggle for life, die Maxime »jeder für sich«, unter der Ägide
der Götter Dollar und D-Mark …
»Es ist alles zu schnell gegangen«, hat man mir immer
wieder gesagt.
Berlin erscheint mir immer mehr wie ein Heizkessel, in
dem gegensätzliche und im Moment unvereinbare Elemente
brodeln.
Ich weiss wohl, dass dies nur ein erster, oberflächlicher
Eindruck ist, den es zu vertiefen, zu vervollkommnen gilt.
In meinem Kopf schwirren tausend Fragen, in meinem No-
tizbuch sind ein paar Adressen, nichts hindert mich, mit
der Arbeit anzufangen.
Ausser dass ich keine Lust dazu habe.
Die Vorstellung, den Menschen ein Mikrofon hinzuhal-
ten und sie zu nötigen, ihre Enttäuschungen und Frustratio-
nen einzugestehen, ist mir plötzlich zuwider.
Im Übrigen bemerke ich zunehmend, dass mich die Ge-
genwart und vor allem die Zukunft Berlins weniger interes-
sieren als seine Vergangenheit.
»Berlin besitzt kein städtisches, sondern ein historisches

Prix Rambert

Yvette Z’Graggen
Deutschlands Himmel

Aus dem Französischen von Regula Renschler


LP 212
Paperback
ISBN 978-3-85787-812-1
Seiten 126
Erschienen 18. Februar 2020
€ 14.50 / Fr. 16.50

Ein Lehrstück über politische Versuchung und Einsicht.
— Schweizer Monat

»Ich bin kein Verbrecher!«, schrieb der junge Deutsche Herbert 1946 an Yvette Z’Graggen. Sie hatte ihn kurz vor Kriegsausbruch in Genf kennengelernt, eine enge Brieffreundschaft verband sie seither. Doch nach 1950 wendet sie sich ab von Deutschland. Erst drei Jahrzehnte später wagt sie eine behutsame Wiederentdeckung, den Versuch einer Versöhnung: Mit dem Besuch der Gedenkstätten des deutschen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus in Berlin verändert sich allmählich Yvette Z’Graggens Bild von den Deutschen. Unerbittlich setzt sie sich mit der Vergangenheit und auch den Rissen in ihrer eigenen Lebensgeschichte auseinander.

Pressestimmen

Ein Buch von grosser Einfühlsamkeit.
— bn.bibliotheksnachrichten
Die Autorin macht einiges von der Faszination begreiflich, mit der totalitäre Bewegungen junge Menschen anziehen, und so wird ihre Erzählung … zum Lehrstück über politische Versuchung und Einsicht.
— Virgilio Masciadri, Schweizer Monat