LENOS
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Lenos Verlag
Mahi Binebine
Der Himmel gibt, der Himmel nimmt
Roman aus Marokko
Aus dem Französischen
von Hilde Fieguth
Die Übersetzerin
Hilde Fieguth, geboren 1944 in Schwabach (Mittelfranken), lebt seit
1983 in Freiburg i.Ü. Langjährige Beschäftigung mit meist literaturbe-
zogener Malerei, daneben 19911998 Leitung einer Kunstgalerie. Seit
2000 freie Literaturübersetzerin; sie übertrug vor allem Werke von
S. Corinna Bille und, zusammen mit Rolf Fieguth, von Maurice Chap-
paz ins Deutsche. Für den Lenos Verlag übersetzte sie 2015 den Ro-
man Dunkler Weg zum Teich von Jean-François Haas. www.fieguth.ch.
Die Übersetzerin und der Verlag danken der Schweizer Kulturstiftung
Pro Helvetia für die Unterstützung.
Titel der französischen Originalausgabe:
Le Seigneur vous le rendra
Copyright © 2013 by Librairie Arthème Fayard
Erste Auflage 2016
Copyright © der deutschen Übersetzung
2016 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Hauptmann & Kompanie, Zürich, Dominic Wilhelm
Umschlagfoto: Keystone / laif / Lutz Jäkel
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 466 6
Für José und Alfredo
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Das Metier eines Babys fachgerecht auszuüben ist
nicht jedermann gegeben. Es reicht nicht, ein unr-
miger oder plärrender Verdauungsapparat zu sein, um
glaubhaft zu erscheinen; echtes Talent ist tig, vor
allem wenn man es wie ich über lange Zeit betreibt.
Über sehr lange Zeit. »Säugling« war also meine erste
Arbeitsstelle. Und ich sage es in aller Bescheidenheit,
kein anderes in der Medina vermietetes Kerlchen war
so lukrativ wie ich. Schon am frühen Morgen rück-
ten routinierte Bettlerinnen vor unserer Behausung
an, warteten darauf, dass Mutter das in Lumpen ge-
wickelte Huhn, das goldene Eier legte, herausbrachte,
und sogleich schnellten die Angebote in die Höhe.
Nie hat mich Mutter r weniger als zwanzig Dir-
ham am Tag hergegeben: Greif zu, oder lass es sein.
Mein Mindestpreis war nicht zu drücken. Dabei war
ich nicht blind, nicht einarmig und nicht verwachsen,
hatte weder Hasenscharte noch Buckel; kein Vergleich
zu den Krüppeln der Konkurrenz. Vollkommen ge-
sund an Körper und Geist! Vielleicht ein bisschen
mager, aber auch nicht mehr als die anderen Knirpse
im Quartier. Mein Ruf als »sicherer Wert« war also
allgemein bekannt. Man brauchte mich nur einer ar-
men Frau, die im Schneidersitz unter einer Mauer
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hockte, in die Arme zu legen, und schon quoll ihr Be-
cher von Münzen über. So wie manche mit einer er-
staunlichen Begabung r Musik, Tanz oder Fussball
geboren werden, war ich als Genie in der Kunst des
Bettelns auf die Welt gekommen. Ich war von dieser
Gnade berührt worden, lange bevor ich meine Nase
in diese Welt gesteckt hatte; diese Gnade soll ich, wie
mein Bruder Taschfin meinte, einem mitleidigen En-
gel im Himmel abgeluchst haben! Laut Mutter hatte
die Hebamme, die mir auf die Welt verholfen hat, ihr
Honorar zurückgewiesen, so empfänglich war sie r
den dankbaren Blick gewesen, mit dem ich sie, noch
ehe die Nabelschnur durchtrennt war, anschaute. Sie
hatte gesagt: »Guten Tag, kleiner Mann, willkommen
im Leben!« Meine Mutter beteuerte, ich hätte dann ein
engelgleiches Lächeln angedeutet, aber es ist höchst
unwahrscheinlich, dass sie damals in ihrem Zustand in
der Lage war, auf ein solches Detail zu achten. Sie be-
hauptete auch, die Hebamme habe vor dem Weggehen
einen Geldschein unter mein Kopfkissen gesteckt, was
Tante Sinab später bestätigte, die sogar den genauen
Betrag angab. So war ich also nicht nur gratis gebo-
ren worden, sondern hatte sogar derjenigen, die mir
den Weg ins Licht erleichtert hatte, etwas abgeknöpft.
Mutter sah darin ein gutes Omen, das deutliche Vor-
zeichen einer glänzenden Karriere. Sie wiederholte bei
jeder Gelegenheit: »So schmächtig es auch ist das
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Engelchen, das ihr hier seht, wird uns eines Tages aus
der Misere holen!« Engel hatte sie jedoch schon einen
ganzen Haufen. Sechs, um genau zu sein: zwei Mäd-
chen und vier Jungen.
Wie dem auch sei, sie hatte mir die schwere Auf-
gabe zugeteilt, unseren Haushalt vor dem Ruin zu ret-
ten. Und meine ersten Schritte im Leben schienen ihre
Vorhersagen zu bestätigen. Schon sehr früh wurde mir
die Hässlichkeit der Welt bewusst, in der ich zweifel-
los per Zufall gestrandet war, denn ich war ganz an-
ders als die Meinen. Nicht alle Makel, die eigentlich
meiner Situation entsprochen hätten, hatten sich auf
mir vereint. Arm, gewiss, aber nicht blöd. Auch nicht
hässlich. Manche fanden an mir sogar einen gewissen
Beduinencharme: Adlernase, leicht mandelförmige Au-
gen, ein wenig hohlwangig, braun gebrannt und krau-
ses Haar, alles sprach also eher für ein verführerisches
Schnäuzchen. Der Himmel hatte mich nicht ganz und
gar verdammt. Tief unten im Abgrund sah ich undeut-
lich eine Luke, durch die ein merkwürdiger Schimmer
drang, wie der Ruf nach einem besseren Leben. Und
es fehlte mir nicht an Tmpfen und nicht an Ehrgeiz,
um es erreichen zu können. So machte ich mich daran,
die Menschen und die Dinge in meiner Umgebung aus
der Nähe zu erforschen. Ziemlich schnell schätzte ich
die Wichtigkeit eines Blicks und die Wirkung eines
Lächelns in den menschlichen Beziehungen ab, das
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Sesam-öffne-dich, das auf meinem Weg entscheidend
werden sollte. Ich gehörte zum Stamm der Auserwähl-
ten, und das wusste ich. Mutter wusste es auch; mehr
noch, sie war so überzeugt davon, dass sie schliesslich
die ganze Sippschaft dafür gewann: Brüder, Schwes-
tern, Cousins, Nachbarn, Onkel, Tanten und sogar die
fernen Verwandten, die noch in ihren Bergen wohnten.
All die guten Leute erwarteten nun von mir das Wun-
der, die Arche Noah für die Familie.
Zunächst aber bestand meine Arbeit nur darin, es
mir wohl sein zu lassen, vom Morgen bis zum Abend
schmiegte ich mich dösend an die uche, die ich
beim Aufwachen vorfand. Ich amüsierte mich dann
damit, sie zu erkunden, rieb mir also die Wangen an
ihnen, leckte sie mit der Zungenspitze ab, um der
neuen Mama ein Gesicht zu geben, die mich den gan-
zen Tag über an ihrer schweren Brust mit dem beis-
senden Geruch ihrer Achselhöhlen und dem ekligen
Gestank ihrer alten Kleider ersticken würde. Was habe
ich r Wänste erlebt während meiner Säuglingskar-
riere! Ich könnte mich lange auslassen über die ver-
schiedenen weiblichen Formen, von einladenden bis zu
unbequemen, von wohlriechenden bis zu ranzigen. Ich
nnte die Beschaffenheit ihrer Haut schildern, ihre
Behaarung, Geschmeidigkeit, ihren Teint, wie sanft
sie war oder wie rau, ihren Duft, ihre Leberecken.
Ich nnte genauestens das Aussehen ihrer Nabel be-
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schreiben, Napf oder Knopf, konkav oder konvex, die
eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf meine Fin-
ger ausübten … Ich nnte die tausendundein Formen
der Brüste beschreiben, die ich betasten und drücken
musste, um eine Milch einzusaugen, die nicht kam.
Runde und weiche Bste, schlaffe, ohne Geschmack,
arrogante, hoch angesetzte, reife Klementinen, stolze
Birnen, trockene Feigen, Kugeln mit Schlupfwarzen,
halbvolle Schläuche, dralle, von blauen Adern durchzo-
gene Melonen, feste, aber leere Brüste, oder tröpfelnd,
aber selbstherrlich, meinen Händchen und meinem un-
ersättlichen Mund dargeboten … Kaum fand ich mich
eingerollt in einem neuen Schoss, schon machte ich
mich daran, ihn abzuhorchen, an ihm zu schnuppern
wie ein Kannibale, der gleich zubeissen wird, alle seine
Falten und Fältchen zu erforschen, seine Konsistenz,
die Wülste, die Einbuchtungen, die flachen Stellen, die
Rundungen, die Vorsprünge, ich schritt zu einer re-
gelrechten Erforschung der Bleibe, die mich diesmal
von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang aufnehmen
würde. Noch mehr als all die wie Schiffsrümpfe ge-
bogenen uche, die sich als schützende Hülle boten,
schätzte ich die merkwürdige Empfindung, gleichzei-
tig innen und aussen zu sein, ein Embryo, der ein Bad
von Licht und Seeluft nehmen und bei derselben Gele-
genheit das Chaos kennenlernen durfte.

Mahi Binebine
Der Himmel gibt, der Himmel nimmt

Roman aus Marokko

Aus dem Französischen von Hilde Fieguth


Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-85787-466-6
Seiten 216
Erschienen 8. September 2016
€ 21.90 / Fr. 29.50

Ein Schelmenroman, der mit Witz vom Elend erzählt, ohne dadurch die alltägliche Not zu überzuckern.
— Katharina Borchardt, Deutschlandfunk

Krümelchen wurde in der Medina von Marrakesch geboren und überflügelt seine fünf Geschwister schon als Säugling in der Kunst des Bettelns: An arme Frauen vermietet, beschert er seiner Familie ein florierendes Geschäft. Doch das Talent wird ihm bald zum Verhängnis, denn seine Mutter unternimmt alles, um das rentable Baby am Wachsen zu hindern. An einen Kinderwagen gefesselt und körperlich verkümmert, findet er immer neue Wege, sich als Attraktion zu inszenieren und den Leuten Staunen, Mitleid und Geld zu entlocken. Als er bei einem spanischen Professor heimlich lesen und schreiben lernt, eröffnen ihm die Bücher eine neue Welt. Sein Blick auf das Leben verändert sich radikal. Mit der ersten Liebe gelingt ihm die Emanzipation von der Mutter und der Beginn eines eigenständigen Lebens.

Mahi Binebines wunderbare Entwicklungsgeschichte gibt den Vergessenen dieser Welt eine Stimme. Sie beleuchtet die allzu bekannte, tragische Situation vieler Kinder in Armut aus einer Perspektive, deren Humor und Menschlichkeit überraschen. Sie ist kein Abgesang, sondern eine Hymne auf das Leben, die Bildung und die Poesie.


Pressestimmen

Ein Kleinod des schwarzen Humors, eine Hymne auf die Kraft des Lebens.
— Libération
Mahi Binebine weckt mit seiner witzigen und empathischen Erzählweise Mitgefühl für diejenigen auf der Schattenseite des Lebens.
— Dina Netz, Westdeutscher Rundfunk / Südwestrundfunk
Ein Schelmenroman, der mit Witz vom Elend erzählt, ohne dadurch die alltägliche Not zu überzuckern.
— Katharina Borchardt, Deutschlandfunk
Man spürt in Binebines Beschreibungen der Hungerleider, wie gross seine Zuneigung für diejenigen ist, die immer am Rand der Gesellschaft leben werden. (…) Er prangert die omnipräsente Gewalt im Leben der Deklassierten ebenso wie die fehlende soziale Empathie der breiten Masse an.
— Sigrid Brinkmann, Deutschlandradio Kultur
Mahi Binebine kombiniert Elemente des Entwicklungs- und des Schelmenromans zu einer Groteske sui generis, durchzogen von bitterer Ironie, geprägt ebenso von Sarkasmus und schwarzem Humor wie von Hoffnung und Zuversicht.
— Badische Zeitung
Mahi Binebines Roman über einen Strassenjungen aus Marrakesch ist eine Coming-of-Age-Erzählung von der heilsamen Wirkung der Kunst auf Mensch und Gesellschaft.
— Claudia Kramatschek, Welt-Sichten
Der Roman ist von einem wundervollen, sinnlichen Humor durchzogen und macht grossen Spass beim Lesen.
— Oliver Fründt, Büchergilde Buchtipps

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