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Lenos Verlag
Claude Cueni
Der Henker von Paris
Roman
Erste Auflage 2013
Copyright © 2013 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Hauptmann & Kompanie, Zürich
Umschlagbild: Pierre-Antoine Demachy, Une exécution capitale,
place de la Révolution (um 1793)
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 433 8
Für Clovis, Dina, Emmanuel
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1
Gegen Mitternacht man schrieb das Jahr 1737 fegte
ein gewaltiger Sturm über die Normandie. Es regnete in
Strömen. Krachend schlug der Blitz in einen bewaldeten
Hügel ein und erhellte für einen Sekundenbruchteil den
Reiter, der durch die Nacht preschte. Er schlug seinen Rap-
pen wie von Sinnen, als wollte er dem sintflutartigen Re-
gen entkommen, der sich über die Landschaft ergoss. Nun
spaltete ein Blitz nach dem andern den Nachthimmel und
entlud sich krachend über den Hügeln. Bäume knickten ein
wie Streichhölzer. Der schwarze Hengst heulte kurz auf, als
sie ein kleines Gehöft passierten. Der verwitterte Anstrich
schien blutrot. Der Reiter gab dem geschundenen Tier er-
neut die Sporen. Es riss unwillig den Kopf hoch. Weisser
Schaum spritzte durch die Nacht und wurde sogleich weg-
gewaschen. Der Reiter preschte weiter auf der überfluteten
Landstrasse nach Neufchâtel im Pays de Bray, während
der Regen tosend auf ihn niederprasselte. Ptzlich sah er
ein gelblich flackerndes Licht zwischen den umen, die
Umrisse eines Gasthofes. Im gleichen Augenblick knickte
sein Pferd mit den Vorderbeinen ein, und er og in wei-
tem Bogen über den Kopf des Tieres hinweg. Sein Körper
klatschte in eine Pfütze und schlitterte noch einige Meter
weiter, bis er schliesslich mit dem Kopf gegen einen vom
Sturm abgeknickten Baumstamm krachte. Es dauerte eine
ganze Weile, bis er bemerkte, dass er den Sturz unverletzt
überlebt hatte. Dann kamen die Schmerzen. Sein Rappe lag
erschöpft und wimmernd am Wegrand und versuchte ver-
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geblich, sich zu erheben. Hilflos ruderte das Tier mit den
Beinen und warf dabei den Kopf wiehernd in die Höhe. Ein
letztes Mal. Dann klatschte er in den Schlamm und regte
sich nicht mehr. Es war stockfinster.
Der Reiter erhob sich langsam und verharrte eine Weile
in gebückter Haltung. Keuchend schaute er zu seinem
Pferd. Dann bemerkte er die Satteltasche: Sie hatte sich
offensichtlich vom Ledergurt losgerissen und lag ihm zu
Füssen. Er öffnete sie und entnahm ihr eine schwere doppel-
läufige Pistole mit Radschloss. Er hatte sie beim Pharospiel
gewonnen. Ptzlich glitt er aus und rutschte erneut über
den schlammigen Erdboden. Auf den Knien suchte er nach
seiner Waffe, die ihm aus der Hand geflogen war. Er fand
sie. Erleichtert näherte er sich auf den Knien dem Rappen.
Fast zärtlich fuhr er ihm über die Nüstern. Er setzte die Pis-
tole an die Schläfe des Pferdes und drückte ab. Man rte
kein Aufschlagen des Hahns. Das Zündpulver war nass.
Erneut zerriss ein kräftiger Donner die Stille der Nacht.
Krachend schlugen weitere Blitze in der Nähe ein. Der Rei-
ter erhob sich. Kübelweise ergoss sich der Regen über seine
durchnässte Uniform. Doch er war nicht den langen Weg
geritten, um hier aufzugeben.
Er stampfte über den aufgeweichten Lehmboden und nä-
herte sich Schritt r Schritt dem gelblichen Licht. Ein Lä-
cheln huschte über seine Lippen. Hatte Gott seine Gebete
erhört? Er stiess die Tür des Gasthofes auf. Im Innern sassen
einige düstere Gesellen an einem langen Tisch. Die anderen
Tische waren leer. Bis auf einen: An einem kleinen, runden
Tisch in der Ecke sass ein Hüne von Mann allein vor einem
lzernen Becher.
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Der Reiter schloss die Tür hinter sich. Nun waren alle
Blicke auf ihn gerichtet. Denn auch er war von ungewohnt
hohem Wuchs. Er hatte eine aufrechte, stolze rperhaltung
und halblanges braunes Haar. Jetzt bemerkte er den Wirt
hinter dem Tresen. Dieser sah ihn nicht gerade freundlich
an. Die Gesellen am langen Tisch musterten die Hose des
späten Gastes. Sie war vom Schlamm verschmutzt. Den-
noch konnte man die Farben des Regiments des Marquis
de La Boissière erkennen, die sich vom Gurt bis hinunter zu
den schlammverspritzten Stiefeln abzeichneten. Es war eine
Offiziershose.
»Wo sind wir hier?«, fragte der Reiter.
Niemand gab ihm eine Antwort.
Er wandte sich an den Wirt: »Gib mir was zu trinken.«
»Das haben wir nicht«, sagte der Wirt nach einer Weile.
»Wein. Rotwein.«
Der Wirt nahm eine Flasche und llte einen Becher
voll. Der Reiter kramte eine Münze aus seiner Tasche und
legte sie auf den Tresen. Der Wirt musterte das Geldstück.
Es war ihm unbekannt.
»Sie wurde in Nouvelle-France geprägt«, sagte der Offi-
zier, und als wollte er sich endlich die gebührende Autorität
verschaffen, fügte er hinzu: »Ich bin Leutnant Chevalier de
Longval, Jean-Baptiste Sanson de Longval.«
Der Wirt senkte verunsichert den Kopf. Respektvoll
wich er einen Schritt zurück. Langsam schob er den Becher
über den Tresen und fragte: »Hast du in Indien gekämpft?«
»Wir nennen es Amerika, aber die Eingeborenen, die
nennen wir Indianer. Ich weiss nicht, was richtig ist. Haupt-
sache, wir verstehen uns.«
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Der Wirt nickte und sagte nach einer Weile: »Wir mö-
gen hier keine Fremden.«
»Ich war nie wirklich weg. Ein Jahr vielleicht.«
Der Wirt schüttelte den Kopf. »Ich habe schon einige ge-
sehen, die drüben waren. Das sind nicht mehr die gleichen
Leute, wenn sie zurückkommen. Die reden dann dummes
Zeug. Denn drüben, da gibt es keine nige. Da ist jeder
sein eigener König. Das habe ich mal gert.«
»Ja«, murmelte Leutnant Sanson, »es gibt sogar welche,
die sich von Frankreich abspalten wollen. Dafür ziehen sie
in den Krieg und sterben. Sie wollen Freiheit.«
Der Wirt musterte ihn skeptisch und wandte sich dann
von ihm ab. Er brachte den Gästen am langen Tisch einen
neuen Krug Wein.
»Wo ist der Rest deiner Armee?«, stichelte einer der
Gesellen und zeigte seine schwarzen Zahnstummel. Nun
lachten die Saufkumpane. Es war ein raues, respektloses La-
chen. Wie eine verschworene feindliche Truppe sassen sie an
ihrem Tisch und lauerten auf seine Antwort.
»Desertiert«, fragte einer, »oder bringst du uns den
Krieg?«
Der Leutnant trank seinen Becher in einem Zug leer und
trat an den langen Tisch. »Messieurs, mein Regiment ist in
der Nähe von Dieppe stationiert. Es ist das Regiment des
Marquis de La Boissière. Ich bin im Auftrag meines Kom-
mandanten unterwegs. Ich habe eine dringende Depesche
r Paris.« Er nahm Haltung an und legte seine rechte Hand
auf den eisernen Korb seines langen Degens. »Ich brauche
ein frisches Pferd.« Er schaute den Wirt fordernd an.
»Siehst du hier irgendwelche Pferde?«
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»Er hat nur uns«, grölte einer der Gesellen. Die anderen
kicherten besoffen vor sich hin.
»Wie bist du denn hergekommen?«, fragte der Wirt.
»Mein Pferd liegt draussen im Schlamm. Es hat sich das
Bein gebrochen.« Er wurde allmählich ungeduldig. »Ich
wollte ihm den Gnadenschuss geben, aber das Zündpulver
ist nass.«
Nun schauten alle zu jenem Gast hinüber, der einsam am
kleinen, runden Tisch in der Ecke sass. Doch dieser blickte
nicht auf. Er starrte in seinen Becher. Sein Haupt war kahl.
»Frag ihn«, sagte der Wirt unwirsch, »vielleicht hat er
ein Pferd für dich. Bei uns kannst du eh nicht bleiben. Wir
haben keine Gästezimmer.«
»Ich brauche auch eine Waffe, mein Pferd muss erlöst
werden.«
»Sehe ich aus wie ein Waffenhändler?«, brummte der
Wirt. »Frag ihn. Er kennt sich aus mit Tieren. Er weiss, wie
man ein sterbendes Pferd erlöst.«
Die Männer am langen Tisch lachten erneut.
»Fünf Sou«, brummte der Hüne in der Ecke.
Leutnant Sanson kramte einige Münzen aus der Tasche
und legte sie auf den Tresen.
»Gib es ihm selber«, sagte der Wirt mit einem seltsam
verächtlichen Unterton.
»Nein«, erwiderte der Hüne, »lass es auf dem Tresen. Er
soll mir dafür nochmals Wein bringen.«
Der Leutnant schob einen leeren Becher über den Tresen.
»Gib ihm Wein.«
Der Wirt nahm den Becher und stellte ihn wieder auf
den Kopf. »Er trinkt aus seinem eigenen Becher.«

Claude Cueni
Der Henker von Paris

Roman

E-Book
ISBN 978-3-85787-519-9
Seiten ca. 391
Erschienen 1. Juli 2013
€ 13.99

Charles-Henri Sanson fühlt sich zum Arzt berufen. Doch auf seiner Familie lastet ein Fluch, der ihm bereits in der Schule zum Verhängnis wird: Man erkennt ihn als Sohn des Henkers, eine medizinische Laufbahn bleibt ihm verwehrt, er muss in die Fussstapfen seines Vaters treten. Töten statt heilen. Sanson wird zum Gefangenen seines Schicksals, die Qualen der Todeskandidaten werden zu seinen eigenen. Tagsüber richtet er auf dem Schafott, abends spielt er Klavier, und nachts seziert er die Leichen, um die menschliche Anatomie zu erforschen.
Während der Terrorherrschaft im Gefolge der Französischen Revolution guillotiniert »Monsieur de Paris« über 3000 Menschen. Die Stadt ertrinkt im Blut, und Sanson verliert allmählich den Verstand. Verzweifelt sucht er nach Menschlichkeit und Anerkennung. Die Liebe einer Siamesin, die er gleichwohl nicht heiraten darf, gibt ihm Halt. Bis sie selbst auf die Todeslisten der Revolutionäre gerät …

Claude Cuenis Roman ist eine ebenso beklemmende wie packende Charakterstudie über den berühmtesten Henker der Geschichte.

Pressestimmen

Ein herausragender historischer Roman, der weit über die zeitgeschichtlichen Ereignisse hinausweist, Philosophie und Aufklärung einbezieht und ein brutales, aber authentisches Bild des 18. Jahrhunderts vermittelt.
— literaturkritik.de
Ein opulenter Historienroman und allerbester Lesestoff vom Basler Bestsellerautor Claude Cueni.
— 20 Minuten
Für wen die Französische Revolution bisher nur trockener Schulstoff war, der sollte sich unbedingt diesen tollen Roman kaufen.
— Literaturkurier