LENOS
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Mit dem Haus im Grünen hat sich ierry einen Traum erfüllt. Zu-
sammen mit Élisabeth geniesst er die Ruhe und Abgeschiedenheit
des Wohnens nahe einem Wald. Im einzigen Haus nebenan leben
Guy und Chantal.
In den vier Jahren ihrer Nachbarschaft haben sich die Paare ange-
freundet. Die Männer pegen gemeinsame Interessen, gehen an-
geln, züchten Schmetterlinge. Die Frauen tauschen Rezepte, immer
wieder verbringen sie zusammen gemütliche Abende.
Eines Morgens werden die Häuser von der Polizei umstellt. Bewa-
nete Spezialeinheiten stürmen das Nachbargebäude, akribisch wer-
den die Gärten und der nahe gelegene Wald durchkämmt. ierry
und Élisabeth erfahren, dass der freundliche Nachbar seit Jahren als
Serienmörder gesucht wurde. Eine Welt bricht für sie zusammen, ihr
gemeinsames Leben zerfällt.
Von seiner Frau verlassen, sieht ierry sich gezwungen, sich seiner
eigenen verdrängten Lebensgeschichte zu stellen. Wie konnte er in
seinem besten Freund nicht das Böse erkennen? In Guy widerspie-
gelt sich seine eigene Vergangenheit.
Tiany Tavernier, geboren 1967 als Tochter der Drehbuchautorin
Colo Tavernier und des Regisseurs Bertrand Tavernier, hat Romane
und Drehbücher verfasst. Ihr erster Roman, Dans la nuit aussi le ciel
(1999), beschreibt ihre Erfahrungen, die sie als Achtzehnjährige in
den Sterbehäusern von Kalkutta machte. Seitdem hat sie die Welt
bereist, insbesondere die Arktis, wo sie ihren nächsten Roman,
L’Homme blanc (2000), ansiedelte. Danach schrieb sie acht weitere
Romane, zuletzt En vérité, Alice (2024). Mit L’Ami (2021) war sie
u. a. Finalistin beim Grand Prix RTL-Lire, beim Prix des Libraires
und beim Prix du Livre Inter.
Lenos Verlag
Tiany Tavernier
Der Freund
Roman
Aus dem Französischen
von Anne omas
Die Übersetzerin
Anne omas wurde 1988 in Karl-Marx-Stadt/Chemnitz geboren
und wuchs in Flensburg auf, nachdem sie 1989 mit ihrer Familie
aus der DDR geohen war. Seit 2013 ist sie als freiberufliche litera-
rische Übersetzerin tätig (u. a. Colin Niel, Éric Plamondon, Dimitri
Rouchon-Borie). Sie lebt hauptsächlich in Paris. Regelmässige
Arbeitsaufenthalte in Berlin und London. Anne omas organisiert
und leitet Übersetzungsworkshops in Schulen in Deutschland und
Frankreich und ist als Dolmetscherin bei literarischen und kulturel-
len Veranstaltungen tätig.
Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des
Institut français.
Titel der französischen Originalausgabe:
L’Ami
Copyright © Sabine Wespieser éditeur, 2021
Erste Auflage 2024
Copyright © der deutschen Übersetzung
2024 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlagfoto: Madeleine Imhof
Printed in Germany
ISBN 978 3 03925 040 0
www.lenos.ch
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Es ist ein Samstag wie jeder andere. Ich ziehe mich im
Halbdunkel an, damit Élisabeth nicht aufwacht. Unten
an der Treppe keine Jules. Sonst empng sie mich im-
mer mit freudigem Gebell. In der Küche schalte ich die
Kaeemaschine an, nehme eine Tasse aus dem Schrank.
Draussen dämmert der Morgen herauf, das Laub der
Eichen rauscht. Drüben schlafen alle noch. Die Stille
ist allgegenwärtig. Als Jules starb, hat Élisabeth darauf
bestanden, dass sie auf einem Hundefriedhof beerdigt
wird, den Grabstein hat sie auch ausgesucht. Weiss. Es
war eine schöne Trauerfeier. Sogar Élisabeths Schwes-
tern sind gekommen. An dem Abend haben wir so viel
getrunken, dass alle bei uns übernachtet haben, ausser
Guy und Chantal natürlich. Hat mir viel bedeutet, dass
sie gekommen sind. Vor allem Guy. Chantals Depres-
sion ist wirklich zum Kotzen. Ja, Kotzen ist das richtige
Wort. Wir hören sie manchmal streiten, bis spätabends,
dann ist Ruhe, es geht vorbei. Die Sache mit Nelly, ihrer
Hündin, ist jetzt ein Jahr her. Das war wirklich Pech,
wo hier so wenig Verkehr ist. Das Schwein, das sie über-
fahren hat, hat sich natürlich hübsch aus dem Staub
gemacht, er wurde nie gefunden. Die Hündin schon.
Was von ihr übrig war, jedenfalls: ein blutiger Hau-
fen Fleisch, den Guy und ich noch am selben Abend
begraben haben. Mit Hacke und Schaufel, in ihrem
Garten. Eine schreckliche Nacht, wie man sie nicht er-
leben möchte. Guy weinte still vor sich hin, ich grub.
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Vielleicht wollte Élisabeth deshalb Jules’ Beerdigung im
grossen Stil begehen. Um das Unglück wettzumachen.
Auf dem Küchentisch reibt eine Musca domestica die
Beine aneinander, leicht zu erkennen an den grossen ro-
ten Augen und dem grauen orax. Ich frage mich, ob
es in Vietnam welche gibt. Wenn Marc sich das nächste
Mal meldet, frage ich ihn. Sieht ganz so aus, als ob es
ihm dort prima gefällt. Auf seinen Instagram-Fotos lä-
chelt er immer, was Élisabeth beruhigend ndet. Ich
nicht. Was musste er sich ausgerechnet dieses Land aus-
suchen? Meinem Vater hätte das garantiert nicht gefal-
len. Und dann dieser Job in dem grossen Hotel. Behan-
deln die ihn wenigstens gut?
Draussen färbt der Himmel sich allmählich hellrosa.
Ich bin nicht viel herumgekommen. Einmal, mit zwei-
undzwanzig, war ich ein paar Tage in Spanien, ein ande-
res Mal in Schweden, mit Élisabeth. Dann kam Marc.
Auf Reisen hatten wir dann gar keine Lust mehr, höchs-
tens ans Meer, im Sommer, mit dem Kleinen. Manch-
mal nde ich es ganz komisch, ihn so weit weg zu
wissen. Brutal kommt der Schmerz wieder hoch. Und
geht vorbei, wie die Streitereien von Guy und Chantal.
Dabei wohnt er seit Jahren nicht mehr zu Hause, aber
gut, die Uni war nur eine Autofahrt entfernt. Jetzt leben
wir nicht einmal mehr in derselben Zeitzone, und auch
wenn wir skypen, je länger das so geht, desto weniger
haben wir uns zu sagen.
Die Fliege hebt vom Tisch ab und setzt sich auf die
Fensterscheibe. Die Stunden, in denen alles noch ruhig
ist, sind mir das Liebste. Keine Autos, kein Telefonklin-
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geln. Lediglich das langsame Heraufdämmern des Ta-
ges, das Knacken der Äste im Wind. Ich trinke meinen
Kaee in einem Zug. Danach mache ich meinen Spa-
ziergang an der Aune. Um diese Uhrzeit bin ich dort
noch nie jemandem begegnet, ausser einmal Chantal.
Die Sonne war gerade aufgegangen. Da sah ich sie am
Flussufer sitzen, sie starrte ins Leere. Wie sie sich er-
schreckt hat, als ich aufgetaucht bin. Sie hatte die ganze
Nacht kein Auge zugetan und gehot, ein wenig frische
Luft tue ihr gut. Ich habe gefragt, ob sie auf einen Kaf-
fee mit reinkommen möchte. Sie hat mich merkwürdig
angestarrt, dann ist sie mit einem Mal aufgesprungen
und weggelaufen. Élisabeth sagt, es sei wegen ihrer Me-
dikamente. So starkes Zeug, dass es manchmal Monate
dauert, bis man richtig eingestellt ist.
Erste Sonnenstrahlen fallen in die Küche. Bald kön-
nen wir auf der neuen Hochterrasse frühstücken. Was
für eine Plackerei das war, die Fläche auszuheben. Aber
jetzt ist es so weit, die Pfosten sind in der Erde, ich muss
nur noch die Dielen verlegen. Wir könnten eine Holly-
woodschaukel aufstellen, wie in den amerikanischen Fil-
men. Untendrunter werde ich Brennholz lagern, und für
Regentage will ich auch noch eine Überdachung bauen.
Von hier aus hat man einen herrlichen Blick. Bäume,
nichts als Bäume. Das hat mir am meisten gefallen, als
wir zufällig dieses Haus entdeckten. Die unberührte Na-
tur rundherum. Élisabeth nicht. Der Gedanke, so abge-
legen zu wohnen, machte ihr Angst. Das Angebot war
sehr günstig, ich habe sie angeeht, es sich noch mal zu
überlegen. Nicht nur, dass es spottbillig zu haben war
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und Potential für jede Menge Ausbaumöglichkeiten bot,
von hier aus waren es auch nur zehn Kilometer bis zu
der Fabrik, in der ich arbeite, und nicht mal acht Kilo-
meter bis P., dem Städtchen, in dem Élisabeth als Kran-
kenschwester sehnlichst erwartet wurde. Eine Wohnung
in der Stadt würde pro Tag Dutzende zusätzliche Kilo-
meter und viel weniger Wohnäche bedeuten. Trotzdem
war Élisabeth unschlüssig, und ich wollte schon aufge-
ben, da brachte ihre Mutter den Gedanken ins Spiel,
uns einen Hund zuzulegen. Das war wie Zauberei. Mit
einem Hund aber ein richtiger Wachhund, ja? –, dann,
ja, dann konnte Élisabeth sich vorstellen, hier zu leben.
In den Tagen nach unserem Umzug war ich so aufge-
regt, dass ich mich direkt ans Renovieren machte: unser
Schlafzimmer, das Kinderzimmer des Kleinen, das Bad,
dann im Erdgeschoss Wohnzimmer, Küche und Garage.
Heute haben wir all das und sogar ein drittes Schlaf-
zimmer, das Élisabeth vor zwei Jahren in Ermangelung
weiterer Kinder zum Atelier umfunktioniert hat. Sie
verbringt dort mehr und mehr Zeit und malt ihre »Er-
leuchtungen«: Anhäufungen von Formen und Farben,
mit denen ich nichts anfangen kann. Aber was solls, ihr
tut es gut, und bei dem, was sie auf Arbeit alles aus-
hält In einer Ecke steht noch das Bett; ihre Schwes-
tern übernachten manchmal darin. Mein Bruder nie.
Aber das ist eine andere Geschichte.
Ich werfe einen Blick auf die zweite Uhr. In Hanoi
ist es fast Mittag, in den Strassen wimmelt es von Men-
schen. Hier ist das Gras noch taunass, und die Libellen
schlafen. Im frühen Morgenlicht funkelt alles, selbst die
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Felsen. Mit ein bisschen Glück fange ich ein paar Fluss-
krebse, und wenn das Wasser nicht zu kalt ist, kann ich
dort, wo die Aune ein bisschen tiefer ist, unter dem
Blätterdach baden. Heute wird es schön. Der Himmel
ist wolkenlos. Vielleicht kann ich nachmittags mal die
grosse Leiter rausholen und nachschauen, wo am Dach
es hereinregnet. Ob Guy mir wohl beim Tragen hilft?
Heute Nacht habe ich seinen Lieferwagen sehr spät
zurückkommen hören. Wenn es mit Chantal zu hitzig
wird, fährt er stundenlang durch die Gegend, um sich
zu beruhigen. Die Morgen danach sind nicht leicht.
Ausgerechnet, wo ich endlich einmal keine Rufbereit-
schaft habe. Ich werde trotzdem mein Glück versuchen,
aber nicht vor Mittag. Morgens hat Guy üble Laune.
Allmählich kenne ich ihn, nach all der Zeit.
Ich ziehe die Gummistiefel an und nehme mir vor,
Lisa nachher das Frühstück ans Bett zu bringen. Und
noch einmal zu ihr unter die Decke zu schlüpfen. Erst
würde sie schimpfen, weil ich dann nach Schlick stinke,
mir am Ende aber verzeihen, weil ich an die Marmelade
gedacht habe. Wir haben wirklich Glück, dass wir uns
nach all den Jahren noch immer so sehr lieben. Und dass
wir so ein geruhsames Leben führen, obwohl sie täglich
geschater ist, wegen der Überlastung auf Arbeit, und
ich selbst komme immer schwerer aus dem Bett, wenn
ich mitten in der Nacht in die Fabrik gerufen werde, um
dringend eine kaputte Maschine zu reparieren. Den-
noch, kein Vergleich zu dem Leben meines Bruders,
immer im Krieg, zumindest habe ich mir sein Leben in
diesen fernen Ländern stets so vorgestellt. Wenn wir, was
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selten genug vorkommt, miteinander sprechen, traue ich
mich nie, ihn danach zu fragen, und von sich aus erzählt
er nichts. Noch nicht mal eine Frau oder ein Kind hat er.
Ich schnappe mir die Jacke, bin im Begri, die Tür
aufzumachen. Nanu, Motorengeräusche, und zwar von
mehr als einem Auto. Dabei gibt es hier nur unsere
beiden Häuser. Was kann das bloss sein? Ich öne die
Tür, sehe sprachlos zu, wie eins, zwei, drei, vier, fünf,
sechs Polizeiautos und ein Krankenwagen mit Höchst-
geschwindigkeit angerauscht kommen. Gleichzeitig
rennen etwa zwanzig behelmte Männer, wahrscheinlich
GIGN*, mit heruntergelassenem Visier, kugelsicherer
Weste und Wae in der Hand aus dem Wald. Die Szene
ist dermassen surreal, dass ich mich frage, ob ich mir das
nicht einbilde. In einer Staubwolke kommen die Autos
vor Guys und Chantals Haus zum Stehen.
»Monsieur, Sie können nicht hierbleiben.«
Ich mache einen Satz nach hinten, starre den Mann
an, der sich vor mir aufgebaut hat.
»Capitaine Bretan, Gendarmerie nationale.«
Hinter ihm umzingelt die Spezialeinheit Guys und
Chantals Haus, kniend, die Waen im Anschlag. Was
zum …
»Monsieur?«
In meinem Kopf herrscht unbeschreibliches Chaos.
Seine klare, freie Stirn.
»Wie viele Personen benden sich derzeit in Ihrem
Haus?«
* Spezialeinheit der französischen Gendarmerie. (Alle Anmerkungen
von der Übersetzerin)
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Verwirrt starre ich ihn an.
»Monsieur, bitte.«
Worte nden. Raum für Worte. Die richtige Reihen-
folge.
»Das nur ich und meine Frau im oberen Stock,
aber … was ist denn los?«
Er wirft einen Blick hoch zum Schlafzimmerfenster,
schätzt im Bruchteil einer Sekunde die Entfernung zwi-
schen den beiden Häusern.
»Keine Sorge, wir müssen nur sicherstellen, dass Ih-
nen während des Einsatzes nichts passiert.«
»Was für ein Einsatz? Was soll denn dieses …«
»Monsieur, dafür ist jetzt keine Zeit.«
Hinter ihm rennen vier Spezialeinsatzkräfte auf Guys
und Chantals Haus zu …
»Betrit es unsere Nachbarn? Weil, wir sind befreun-
det, wir kennen uns schon eine ganze Weile …«
Fast hätte ich Lust, die Sache mit dem kaputten Dach
zu erzählen, von der grossen Leiter, die ich allein nicht
tragen kann. Seine Fassungslosigkeit bringt mich abrupt
zum Schweigen.
»Befreundet?«
Na ja, klar, befreundet, Rasenmäher, Kartenspiele,
Sonnenschirm, Grillabend, was liegt näher, kein ande-
res Haus weit und breit, warum also guckt er so betrof-
fen, plötzlich möchte ich ihn schütteln, was ist mit den
beiden? Nur wollen die Worte nicht heraus. Und jetzt
starrt er mich so sonderbar an. Als wäre er mir böse
Als wäre es zu spät …
»Ja, na klar, mit Guy und Chantal halt.«
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Seine Stimme wird sanfter.
»Also gut, Sie holen jetzt Ihre Frau nach unten, und
bis auf weiteres verlassen Sie bitte nicht das Haus und
halten sich von den Fenstern fern, verstanden?«
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Élisabeth starrt mich verständnislos an. Ich üstere ihr
zu, dass die Polizei da ist, überall Polizei, dass es ernst
sein muss, sehr ernst sogar, und dass sie ruck, zuck auf-
stehen soll. Sie springt aus dem Bett, wirft den Mor-
genmantel über, kommt mit zerzausten Haaren hinter
mir her. Stocksteif bleibt sie an der Treppe stehen, als
sie den Typ von der Spezialeinheit sieht. Mir fuhr vor-
hin genau der gleiche Schreck durch die Glieder. Die
beiden Häuser in unserer ruhigen Gegend Bei Guy
und Chantal muss wirklich etwas Furchtbares passiert
sein, dass eine solche Armee anrückt. Am liebsten wäre
ich geüchtet. Stattdessen bin ich wie versteinert in der
Tür stehen geblieben und hab, so gut es ging, versucht,
mich zu beruhigen. Mein Herz vor allem. Das Pochen.
Eine wahre Explosion. Als wüsste es bereits, was genau
vorgefallen war. Etwas Schreckliches, das ich mir nicht
vorstellen konnte oder wollte.
Und nun hastet Élisabeth neben mir die Treppe
hinunter. Sie, die sonst immer so fröhlich ist. So viele
Männer für so ein kleines Haus. Ob sie umgebracht
wurden?
Unten deutet der Typ vom
GIGN, kugelsichere
Weste, hochgeklapptes Visier, zum Wohnzimmer.
»Flach auf den Boden legen!«
Bloss ist Élisabeth noch nicht richtig wach. Die In-
formation kommt zu schnell. »Auf den Boden, aber
wieso denn?«
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»Keine Sorge, Madame, eine reine Vorsichtsmass-
nahme, falls es drüben brenzlig wird.«
»Wie, drüben?« Sie hat es fast geschrien.
Er erwidert, mehr könne er ihr nicht sagen.
Sie dreht sich zu mir. »Sind die bei Guy und Chan-
tal?«
Ich nicke und sehe, wie ihre Pupillen sich weiten.
Der Beamte erhält über den Helm einen Befehl. »Le-
gen Sie sich jetzt hin!«
Ich würde ihn gern fragen, ob das wegen der Kugeln
ist, die er bald abschiessen wird, oder wegen denen, die
als Querschläger von drüben kommen könnten, ob er
schon ähnliche Situationen erlebt hat, ob er weiss, ob
Guy und Chantal noch leben, ob …
»Monsieur, kooperieren Sie bitte!«
Alles kommt mir so absurd vor, schon allein er; er
könnte mein Sohn sein, was hat ihn veranlasst, einen sol-
chen Beruf zu wählen; dann wir beide, völlig perplex, da-
bei sind wir doch zu Hause. Zu Hause. Und ich, wo ich
sonst bei grösseren Gefahren einer Maschine kurz vorm
Explodieren, zum Beispiel stets die Ruhe bewahre,
warum dann diese Ahnung einer Katastrophe, als wüsste
ich, dass die Schlacht von vorneherein verloren war.
Der Grünschnabel lässt nicht locker. »Monsieur …«
Weiss er wenigstens, wie lange wir so liegen bleiben
müssen?
Mit bemüht fester Stimme erwidert er, nein, das
wisse er nicht, zeigt dann erneut auf den Teppich, auf
dem schon Élisabeth liegt. »Würden Sie sich jetzt bitte
zu Ihrer Frau legen?«
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Ich gehorche.
»Ich muss Sie allein lassen, stehen Sie unter keinen
Umständen auf, und verhalten Sie sich ruhig, bis wir zu
Ihnen kommen.«

Tiffany Tavernier
Der Freund

Roman

Aus dem Französischen von Anne Thomas


Softcover
ISBN 978-3-03925-040-0
Seiten 262
Erschienen 8. Oktober 2024
€ 26.00 / Fr. 30.00

Ein Roman wie ein Film noir.
— La Croix

Mit dem Haus im Grünen hat sich Thierry einen Traum erfüllt. Zusammen mit Élisabeth geniesst er die Ruhe und Abgeschiedenheit des Wohnens nahe einem Wald. Im einzigen Haus nebenan leben Guy und Chantal.
In den vier Jahren ihrer Nachbarschaft haben sich die Paare angefreundet. Die Männer pflegen gemeinsame Interessen, gehen angeln, züchten Insekten. Die Frauen tauschen Rezepte, immer wieder verbringen sie zusammen gemütliche Abende.
Eines Morgens werden die Häuser von der Polizei umstellt. Bewaffnete Spezialeinheiten stürmen das Nachbargebäude, akribisch werden die Gärten und der nahe gelegene Wald durchkämmt. Thierry und Élisabeth erfahren, dass der freundliche Nachbar seit Jahren als Serienmörder gesucht wurde. Eine Welt bricht für sie zusammen, ihr gemeinsames Leben zerfällt.
Von seiner Frau verlassen, sieht Thierry sich gezwungen, sich seiner eigenen verdrängten Lebensgeschichte zu stellen. Wie konnte er in seinem besten Freund nicht das Böse erkennen? In Guy widerspiegelt sich seine eigene Vergangenheit.


Pressestimmen

Tavernier zerlegt ihre Figuren mit sanftem Nachdruck, ohne sie vorzuführen, zeigt die Zwanghaftigkeit ihrer Regression in Richtung Kindheit. … Tiffany Taverniers erster deutscher Auftritt überzeugt.
— Hannes Hintermeier, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Tiffany Tavernier erzählt virtuos von der Ungeheuerlichkeit, die tief im banalen Alltag lauert.
— Libération
Tavernier erzählt sensibel, zartfühlend und mit leiser, zermürbender Spannung aus Thierrys Perspektive von der emotionalen Herausforderung, wenn angesichts des Grauens alle inneren Strategien versagen, mit denen man bisher das eigene Leid auf Abstand halten konnte.
— Maike Dannenberg, Bücher-Magazin
Es ist ein beklemmender Noir-Psychothriller, eine Serienkillergeschichte ungewohnter Art. Hier geht es nicht um die Suche nach einem Täter, nicht darum, wie er seine Opfer aussuchte und was er ihnen antat, nicht um die Motive des Mörders. Es geht um die Auswirkungen der Verbrechen auf die an sich unbeteiligten Nachbarn.
— Hanspeter Eggenberger, krimikritik.ch
Kein Kriminalroman, aber eine ganz besondere, berührende, fesselnde Geschichte über Liebe und Freundschaft, weit entfernt von jenen abgeschliffenen Diskursen über Gender und Sex.
— Buchhandlung Bellini, Stäfa
Ein faszinierendes Werk um einen aus dem Leben geworfenen Menschen. Sprachlich wuchtig und sehr, sehr präzise.
— Hammett Krimibuchhandlung
Sehr eindrücklich schildert die Autorin, Regisseurin und Drehbuchautorin, welche Auswirkungen Verbrechen auf andere haben können.
— Ursula Friebel, ekz-Informationsdienst
Taverniers filmreifes Erzählen erzeugt eine sehr subtile Spannung … Sie lässt ihr Personal tanzen auf dem Drahtseil zwischen Entsetzen und Verrat. … In Thierrys Vergangenheit führt uns die Autorin, beleuchtet Verlustängste und die quälendste aller Fragen: Hätte er es nicht erkennen müssen, das Böse?
— Petras Bücher-Apotheke
Was macht es mit jemandem, wenn der Mensch, dem man vertraut hat, sich als Monster entpuppt? Grossartiges Buch.
— Buchhandlung Graff, Braunschweig