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Lenos Verlag
Andrea Gerster
Dazwischen Lili
Roman
Copyright © 2008 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Umschlagfoto
: Keystone / Alessandro Della Bella
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 397 3
Die Autorin und der Verlag danken der Kulturstiftung des Kantons
Thurgau r die finanzielle Unterstützung bei der Realisierung dieses
Buches.
Dazwischen Lili
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Mutter gibt es nicht mehr. Vorher war Rex weg. Als erster
aber war Vater gegangen. Das Herz, hatte Mutter bei Vaters
Tod gesagt und: Ein gutes Herz ist oft ein schwaches Herz,
hinzugeseufzt. Auch Luca gibt es nicht mehr. Aber bei Luca
war das Weggehen nicht richtig gewesen, mit dreizehn geht
man nicht. Ich vermisse ihn.
Ich erinnere mich an eine Wut, die, als ich noch Kind
war, in mir hochwellte und, oben im Kopf angekommen,
eine Glocke anschlug. Aber was vorher war, weiss ich nicht
mehr, vor meinen Anfällen, wie es Mutter nannte, wenn ich
schreiend und zappelnd wie ein verrückt gewordener Käfer
am Boden lag und Mutter und Vater mich zuerst entsetzt
anstarrten und dann Teller und Vasen in Sicherheit brach-
ten, während Rex sich leise winselnd unter den Tisch ver-
zog. Wenn ich dann nicht mehr konnte und nur noch dalag,
kroch Rex wieder hervor und strich mit seiner grossen, war-
men Zunge über mein Gesicht, und Mutter sagte: Geh dich
waschen, Ana.
Lili gab es damals noch nicht, jedenfalls nicht in meiner
Nähe.
Heute gibt es Lili, und Anfälle nenne ich diese Zustände
nicht. Es sind Ausfälle. Ich falle heraus, aus dem Rahmen,
und bin dann nicht mehr normal, wie meine Schwiegermut-
ter Lili sagt.
Als ich grösser wurde, hat sich das Ganze ausgewachsen.
Mutter und Vater waren froh darüber. Dass es jetzt wieder
da ist, macht mich traurig, und manchmal denke ich, so
richtig ganz weggegangen ist es nie. Irgendwo unter meiner
Haut ist es wohl sitzengeblieben und lässt, je dünner sie
wird, mich wieder schneller aus ihr fahren. Dünn wie Per-
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gament ist meine Haut noch nicht, die von Lili aber schon,
sie ist ja auch beinahe doppelt so alt wie ich, aber als dünn-
häutig würde ich Lili dennoch nicht bezeichnen.
Heute früh habe ich Katharina angerufen, vor sieben Uhr,
damit ich sie beim Morgenkaffee erwische und sie noch
nicht in der grossen Firma ist, wo sie sich den ganzen Tag
da mit beschäftigt, die Einnahmen und Ausgaben des Un-
ternehmens, bei dem sie angestellt ist, unter Kontrolle zu
halten. Sie ist Reinis Schwester und kann es gut mit Zahlen.
Mit Reini bin ich verheiratet, und seine Mutter Lili wohnt
bei uns, doch ich halte das Leben mit ihr bald nicht mehr
aus. Das ist der Grund, weshalb ich Katharina angerufen
und sie gebeten habe: Nimm deine Mutter für einige Tage
zu dir, ich kann nicht mehr. Diesen Satz hatte ich mir vor-
her zurechtgelegt und ihn aus einigen anderen ausgewählt.
Er sollte sofort auf den Punkt bringen, worum es mir geht,
weil Katharina immer beschäftigt ist und nicht viel Zeit
hat, auch frühmorgens nicht und erst recht nicht für mich.
Tut mir leid, Ana, mein Flug nach Amerika ist bereits
gebucht, hat Katharina gesagt. Ein anderes Mal kein Pro-
blem, hat sie dann etwas leiser nachgeschoben.
Katharina ist nicht verheiratet und hat keine Kinder.
Sie möchte es nicht anders haben, sagt sie jeweils und ver-
gisst dabei, dass sie noch eine Mutter hat, um die sich ihre
Schwägerin Ana mmert. Dass dies zwischendurch auch
ihre Aufgabe wäre, versuche ich ihr dann und wann beizu-
bringen. Doch davon will sie nichts wissen, und sie ist im-
mer sehr geschickt darin auszuweichen, zum Beispiel nach
Amerika, wo sie ein schneeweisses Haus in Florida besitzt,
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ganz allein für sich, und wo Reini und ich noch nie waren,
obschon sie, zugegeben, oft sagt: Kommt doch mal vorbei.
Nun kann man aber an einem Ort, der neun Flugstunden
entfernt liegt, nicht einfach mal schnell vorbeigehen.
Mag sein, dass ich nach ihrer Absage etwas lauter gewor-
den bin, denn ich wollte nicht so schnell aufgeben, aber Ka-
tharina hat sich schnell verabschiedet: Schönen Tag noch,
Ana. Und ich werde nun dableiben müssen, obschon ich
noch ins Telefon gebrüllt habe: Nimm mich mit, Katha-
rina! Dann habe ich die Kaffeetasse und den Unterteller an
die Wand geknallt. Braune Brühe rinnt jetzt von der Wand
auf den hellen Plattenboden, es entsteht ein kleiner See, und
ich stelle mir vor, wie ich meinen Zeigefinger hineintauche,
um mit dem Kaffee auf dem hellen Untergrund zu malen.
Ich finde, Ana hat sich zuwenig im Griff, manchmal
rea giert sie total hysterisch, hat Katharina einmal zu Rei-
ni gesagt. Das ist einige Jahre her. Nicola und Luca gin-
gen noch nicht zur Schule. Es war an einem jener Lili-Ge-
burtstage. Aus allen Richtungen strömten wir Verwandte
in ein Restaurant, das besonders grosse panierte Schnitzel
und ein Säli für kleinere Anlässe im Obergeschoss anbot.
Die Kinder mit sauberen Fingernägeln und ungeflickten
Hosen, Nicola vielleicht sogar mit Röckchen und weisser
Strumpfhose. Festgezurrt in ihren Kindersitzen, quengelten
sie schon nach wenigen Kilometern, denn sie sind nie gern
gefahren, und erbrachen kurz vor der Ankunft auf die Fuss-
matte im Auto. Den ganzen Tag musste ich mir anhören:
Die riechen so komisch, deine Kinder, während sich Reini
bestens zu unterhalten schien. Nicola ass und ass und hör-
te nicht hin, wenn ich sagte: Hör doch auf, sonst wird dir
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wieder schlecht! Natürlich hätte ich mit Nicola nicht so laut
sprechen sollen, aber das kann man hinterher immer leicht
sagen, geschüttelt habe ich sie auch, aber nur kurz, dann
gehorchte sie, hörte auf mit Essen.
Auf der Heimfahrt schliefen beide Kinder, und Reini
sagte: Was für ein schöner Tag, und die Abdrücke meiner
Finger auf der Wange von Nicola waren schon beinahe ver-
blasst. Nein, habe ich Reini damals geantwortet, war kein
schöner Tag für mich, Katharina hat gesagt, ich sei hyste-
risch, sag jetzt nicht, ich täusche mich, ich habe es selber ge-
rt. Reini sagte: War doch nicht ernst gemeint, was weiss
denn die schon von Kindern, und dann hat er eine Melodie
gepfiffen, und ich dachte, die Katharina weiss doch über-
haupt nichts von Kindern, da hat Reini recht.
Was tust du da, Ana?
Im weissen Nachthemd steht Lili in der Küche. Sie steht
immer plötzlich irgendwo, nie höre ich sie kommen, ich
sollte einmal Reini fragen, ob er sie auch nie kommen hört,
ob er sie vielleicht schon als Kind nie hat kommen hören.
Das wäre dann wohl keine schöne Kindheit gewesen.
Reini hat aber nie erwähnt, dass seine Kindheit schwierig
gewesen sei, er hat, wenn ich es recht überlege, überhaupt
nie vom Kind Reini erzählt. So gehe ich davon aus, dass er
seine Mutter jeweils kommen gehört hat. Irgendwann muss-
te sich Lili angewöhnt haben, beim Gehen keine Geräusche
mehr zu machen. Es wird wohl besser sein, wenn ich Reini
dazu keine Fragen stelle, denn in letzter Zeit schaut er mich
ganz erschrocken an, wenn ich ihn etwas frage, als hätte er
mich nicht kommen gehört, dabei sitze ich ihm gegenüber.
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Du stellst manchmal Fragen, Ana, sagt er dann und
schüttelt gleichzeitig verständnislos den Kopf, als ob das
eine Antwort wäre. Und wenn Lili am gleichen Tag gesagt
hat: Ana, du bist irgendwie nicht normal, dann erschüttert
mich das gehörig, und ich habe mir nun vorgenommen,
mir die Fragen an Reini zweimal zu überlegen, bevor ich
sie stelle, zumal er sie ja meistens so oder so nicht beantwor-
tet. Aber genau besehen ist meine Frage, ob er seine Mutter
jeweils kommen hörte, nicht ungewöhnlich, jedenfalls sehe
ich das so.
Das Licht der einfallenden Morgensonne macht Lilis Hemd
so durchsichtig, dass sie genausogut hätte nackt dastehen
nnen. An Lili ngt irgendwie alles, ausser ihrem Haar.
Das steht büschelweise in die he und erinnert an einen
alten, zerzausten Vogel.
Ich möchte nie so werden wie Lili.
Ich warte immer noch auf mein Frühstück, sagt sie.
Sofort, Lili.
Wo sind meine Zähne?
Im Bad.
Wo? So sprich doch lauter!
Es bereitet Lili keine Mühe, ohne Zähne zu befehlen.
Ohne Zähne würde ich nicht einmal den Mund aufmachen,
nicht das Zimmer verlassen. Lili ist anders. Oder ich bin
anders. Was auf dasselbe herauskommt. Wir verstehen uns
nicht. Dies zu wissen hilft mir aber nicht weiter.
Im Bad, sage ich laut und deutlich und dehne dabei jedes
Wort, damit Lili nachher nicht behaupten kann, sie hätte
nichts gert: Deine … Zähne … sind … im … Bad.

Andrea Gerster
Dazwischen Lili

Roman

Lenos Pocket 151
Paperback
ISBN 978-3-85787-751-3
Seiten 155
Erschienen Juli 2011
€ 13.00 / Fr. 15.00

Seit eineinhalb Jahren betreut Ana zu Hause ihre zunehmend demente Schwiegermutter Lili. Die Idee ihres Mannes Reini, der Ana gar nicht erst gefragt hatte. Doch Ana ist mit der Pflege Lilis restlos überfordert und scheinbar machtlos gegen ihren karrierebewussten Ehemann, der längst ein Doppelleben führt und sowieso selten zu Hause ist. Überdies erachtet er diese Lösung als problemlos, sehr praktisch und nicht zuletzt preisgünstig. Hin- und hergerissen zwischen Wut und Mitleid, versucht Ana sich zu wehren und gerät dabei immer tiefer in eine seelische Krise. Schliesslich sind es ausgerechnet Lili und ihre Krankheit, die es Ana ermöglichen, ihr Leben endlich selbst in die Hand zu nehmen.

Pressestimmen

Andrea Gerster legt mit ihrem ersten Roman das bestechende Dokument einer seelischen Krise vor, das ganz aus der Perspektive der langsam abstürzenden Ana erzählt wird: in knappen, pointierten Sätzen, mit schwankendem Realitätssinn, voll dunkel aufwallendem Zorn und zugleich in einer Lakonie, die den Leser fasziniert und frierend durch die Seiten treibt.
— Neue Zürcher Zeitung
Dazwischen Lili erzählt in einer grossen Steigerung vom verzweifelten Leben mit der dementen Schwiegermutter.
— St. Galler Tagblatt
Der erste Roman der Schweizer Autorin Andrea Gerster besticht mit einer berührenden Geschichte vom Verlust der Realität und vom Wiedergewinnen der Beherrschung. Ana findet sie, indem sie die Seiten und die Perspektive wechselt. Denn ›normal‹ ist relativ, stellt sie fest.
— Wiener Zeitung
Ein sehr intensiver Roman, der angesichts der aktuellen Thematik betroffen macht. Die realistische Schilderung in Verbindung mit der einfühlsamen Sprache ist sehr bewegend, der Schluss kann es an Spannung mit jedem guten Krimi aufnehmen. Ein fesselndes Buch, sehr empfehlenswert.
— bn.bibliotheksnachrichten
Mit ihrem lakonischen Erzählstil, der scheinbar scharfsinnig analysiert, in Wirklichkeit aber einfach schonungslos nüchtern feststellt, trifft Andrea Gerster sehr präzise das Ambivalente der diffus fortschreitenden Demenz. … Das Buch wirkt überraschend leichtfüssig – und endet mit einer ebenso leichtfüssig-überraschenden Volte, mit der die Autorin nochmals weit über die Demenzthematik hinausweist. Das Problem, so lautet die Botschaft, ist manchmal gleichzeitig die Lösung des Problems. Oder anders gesagt: Das vermeintliche Problem ist gar nicht das Problematische.
— Saiten
Eine neue Stimme in der Literaturszene, auf die man hören respektive die man lesen muss.
— Urs Heinz Aerni
Die Ostschweizer Autorin Andrea Gerster beschreibt in ihrem Erstlingsroman das Tabuthema Demenz. Mit feinem Gespür skizziert sie das Zusammenleben mit einer dementen Person. Sie zeigt auf, was solche Betreuungsmodelle innerhalb der Familie für die einzelnen Personen bewirken können. … Auf behutsame und teils humorvolle Weise versteht es die Autorin, ein heikles Thema zu verarbeiten.
— Der Rheintaler