LENOS
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LP 226
Manuela wird nach dem Tod ihrer Mutter in eine Internatsschule
für Töchter von Militärangehörigen gebracht. Sie erlebte bis dahin
eine glückliche Kindheit mit vielen Freiräumen nun soll sie sich
an Zucht und Ordnung gewöhnen. In der neuen Umgebung ist sie
unglücklich, der einzige Lichtblick ist das fürsorgliche Fräulein von
Bernburg. Nachdem Manuela die männliche Hauptrolle in einem
Theaterstück spielen durfte und von allen bewundert und gefeiert
wird, gesteht sie öffentlich ihre Liebe zu von Bernburg und berichtet
auch von deren Zuneigung zu ihr. Ein Skandal.
Christa Winsloe
Das Mädchen Manuela
Roman
Lenos Verlag
Die Autorin
Christa Winsloe (1888–1944), geboren in Darmstadt, war Bildhaue-
rin, Schriftstellerin, Journalistin und Theaterautorin. Freundschaften
u. a. mit Erika und Klaus Mann. Ihr erstes Thea terstück, 1930 urauf-
geführt und kurz darauf mit Welterfolg verfilmt, wurde 1933 unter
dem Titel Das Mädchen Manuela als Roman veröffentlicht. Exil im
Zweiten Weltkrieg, u. a. in Frankreich, wo sie zusammen mit ihrer
Lebenspartnerin Simone Gentet in der Résistance aktiv war und 1944
von Unbekannten ermordet wurde.
Erstmals erschienen 1933 im Verlag E. P. Tal & Co., Leipzig/Wien
LP 226
Erste Auflage 2021
Copyright © 2021 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlagfoto: Österreichische Nationalbibliothek, Wien,
Sign. Kor 432/18
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 826 8
www.lenos.ch
In Dankbarkeit und Freundschaft
Irene Hatvany
gewidmet.
Hatvan, Winter 1932/1933
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I
Manuela war ein ersehntes Kind. Ein im voraus heiss ge-
liebtes Kind. Manuela sollte geboren werden. Manuela
sollte ein Mädchen sein. Ehe sie auf die Welt kam, stand
ein Haus bereit. Ein schon ungeduldig werdender Vater.
Eine Mutter, tief vertraut mit diesem Kinde, noch ehe
sie es in den Armen hielt. Zwei Brüder waren gewisse
Kameraden. Etwas gönnerisch, aber stolz auf sie – nun da
sie wirklich da war.
Manuela musste am Sonntag geboren werden es
musste auch Weihnachten sein. Als die beiden Brüder
vom Weihnachtskindertheater heimkehrten, lag sie in
der Wiege. Sie war angekommen wie ein Weihnachtsge-
schenk. Die beiden Brüder wunderten sich nicht. Soeben
hatten sie ja das Christkind in der Wiege liegen sehen
im Stall von Bethlehem. So, dass der fünfjährige Bertram
zum zehnjährigen Alfred in einer Vorstellungsverwirrung
meinte: »Tragen wir sie in den Stall, das wird ihr Spass
machen.« Nur der Einwand, dass weder Kühe noch ein
Esel im Stall seien, sondern lauter Pferde, die es in Bethle-
hem gar nicht gab, liess ihn von dem Vorhaben abstehen.
Obwohl jeder sagte, das Kind sei schön, entsprach
das nicht der Wahrheit. Denn die dunklen Augen, de-
ren Weisses blau war, entbehrten der Augenbrauen. Man
stülpte dem Säugling ein Häubchen auf, um die Kahlheit
des Schädels zu decken.
Ängstlich streichelte Frau Käte das haarlose Köpf-
chen, und als sich dann endlich einzelne seidige, dunkle
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Haare zeigten, wurde ein Familienfest daraus, und Herr
von Meinhardis fand, man müsse eine Flasche Moselwein
aufmachen.
Die ersten Jahre vergingen wie ein einziger Schlaf. Lela
konnte über den Rand ihrer Wiege nicht hinaussehen.
Nur manchmal öffnete sie gross ihre Kirschenaugen,
wenn im Hof Vaters Pferde trappelten. Oder wenn die
Brüder lärmend von der Schule kamen, ihren Ranzen in
die Ecke warfen und »Mutter!« riefen.
Mutter war sie, die immer da war. Sie, die kam, wenn
Lela schrie, sie, die beruhigte, wenn Lela weinte. Lela
das war der Name, den das Kind bildete, nachdem es sich
selbst als ein Wesen, gesondert von ihnen allen, erkannt
hatte. Der feierliche Name Manuela war für ihr winzig
kleines Mäulchen zu schwer. Sie nannte sich Lela, und da-
bei blieb es dann auch.
Später hat Lela ein Bettchen mit hohen Gittern, damit
sie nicht herausfallen kann. Es ist dunkel im Raum, nur
durch die Türritze dringt von aussen her ein Lichtstrahl.
Der Raum ist hoch.
Lelas seidenweiche Haare sind fest zurückgebürstet
und mit einem Band zusammengebunden. Fast schmerzt
es. Draussen geht man hin und her. Unruhe im Haus.
Rufen und Antworten und wieder Stille. Lela soll schla-
fen. Sie liegt auf dem Rücken. Mitten auf der Brust, von
ihren beiden Händen umklammert, schläft ihr schwarzer
Bär. Seine Schnauze hat schreckliche Schnurrbarthaare,
wie Papa, wenn man ihn küsst. Aber Lela liebt »Bär«
doch und erst recht, wenn die anderen sagen, er sei ab-
scheulich. Neben Bär rechts und links, mit den Köpfchen
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auf Lelas Achseln, schlafen die beiden Schnuckis. Zwei
weisse Kaninchen. Das heisst, sie waren einmal weiss.
Schnucki Nummer eins hat keine Ohren mehr, und die
Lederschnauze ist kahl. Mutti hat mit roter Tinte ein
Kreuz darauf gemacht, damit man weiss, was vorne ist.
Schnucki zwei ist noch neu und mehr zum Streicheln da.
Es hat »richtiges« Fell. Es ist nicht leicht, alle drei auf
einmal zu umarmen.
Jetzt trappeln draussen Pferde, und ein Wagen hält
knirschend auf dem Sand. Lelas Herz klopft. Sie presst
die Augen zu. Sie weiss, jetzt werden Mutti und Papa die
Treppe hinuntergehn, und dann werden sie beide draus-
sen in den Wagen steigen, und dann wird eine Wagentür
zuschlagen, und dann ist alles tot und das Haus leer.
Lela krampft die kleinen Finger in das schwarze
Plüschfell ihres Bären. »Mutti soll kommen, Mutti muss
kommen und mir gute Nacht sagen.« Heimlich betet sie,
obwohl sie weiss, dass man den lieben Gott mit solchen
Kleinigkeiten eigentlich nicht belästigen darf – sie betet:
»Lieber Gott, mach, dass Mutti noch mal reinkommt!«
Da öffnet sich behutsam die Tür. Lela hält fest die Au-
gen geschlossen. Eine sanfte Stimme sagt: »Sie schläft.«
Vorsichtig beugt die Mutter sich nieder. Lela ist plötzlich
in schweren Blumenduft eingehüllt. Die kühlen Blüten
an Mutters nackter Schulter streifen ihr Gesicht. Lela öff-
net ein ganz klein wenig die Augen. Ein weisses Atlas-
kleid eine glitzernde Brillantbrosche. Mutters schlanker
Arm steckt in langen weissen Glacéhandschuhen, die sich
unnatürlich anfühlen. Zart zeichnet die Hand ein Kreuz
auf Lelas Stirn: »Gott segne dich, mein Liebling …«
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Es knistert und rauscht eine Schleppe. Die Tür knarrt
ein wenig. Auch durch die Türritze kommt jetzt kein
Licht mehr. Lela reisst die Augen weit auf in der Finster-
nis.
Die Strasse ist nass. Das Pflaster ist holprig. Die La-
ternen flackern und klirren im Wind. Menschenleer die
Strasse. Nur die eisenbeschlagenen Hufe lärmen. Im Wa-
gen riecht es nach altem Leder. Wenn der Laternenschein
einen Augenblick die Insassen streift, glitzert eine Or-
densschnalle. Bunte Bänder dicht aneinandergereiht. Ro-
ter Kragen und silberne Borte. Hellgeputzte Knöpfe.
»Was ist, Käte, warum seufzt du?« kommt’s aus der
Wagenecke.
»Ach, du weisst doch, mir sind diese Hofbälle eigent-
lich eine Qual.«
»Glaubst du, mir machen sie Spass?« fragt der Major
von Meinhardis gekränkt. »Gott weiss, wen ich da wieder
zu Tisch führe. Na, und das Essen. Diese Massenfütterun-
gen sind furchtbar. Alles wird kalt serviert. Ein weisser,
weichlicher Fisch, und dann Filet – immer Filet.«
Drüben schweigt es. Im Dunkel stiehlt sich ein trüb
belustigtes Lächeln über Frau Kätes zartes Gesicht. Aber
schon ist sie wieder ernst. Es wäre ja gut gewesen, still zu
Hause zu bleiben, bei den Kindern. Zu stricken, einen
Brief an Grossmama zu schreiben und früh zu Bett zu
gehen. Nicht all die fremden Menschen sehen zu müssen.
Sie fürchtet sich ein wenig. Es ist dort alles sehr laut. Die
Männer, die müde sind vom Dienst, pulvern sich mit Al-
kohol auf und haben bald rote Gesichter über ihren engen
Kragen. Sie tanzen sich heiss und drücken einen an sich.
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Man wird schwindlig beim Walzer. Dennoch langweilen
sich die meisten. Zu Hause …
Lelas Mutter ist noch fremd in dieser Garnisonstadt
Dünheim mit ihrem kleinen Hof. Offiziere werden wie
Schachfiguren von unsichtbarer Hand gepackt und wo-
andershin gesetzt. Weggenommen und weitergeschoben,
ohne dass man ahnt, warum und wieso. Man zahlt ih-
nen die Umzugskosten, aber niemand fragt danach, ob
sie Freunde verlassen, ob ihrer Frau das neue Klima be-
kommt ob sie dort weit von ihrer Heimat ist, ob die
Kinder in der neuen Schule weiterkommen oder nicht.
Man wird »versetzt«, und dort sitzt man. So klammert
sich das Herz einer Frau an die alte Heimat, weil man
ihr nie Zeit lässt, sich eine neue zu schaffen. Überall ist’s
wie auf Abbruch. Einmal, sicher wie der Tod, kommt die
Versetzung. Bis dahin »macht man alles mit«, wo man
gerade ist. Das Regiment ist die unweigerlich festge-
setzte Gesellschaft. Ob du sie magst oder nicht, die Frau
des Kommandeurs, des Majors, des Oberleutnants sind
deine Freundinnen. Die werden eingeladen und laden ein
und niemand anders. Du kannst unmöglich mit der Frau
eines Arztes oder eines Bankiers verkehren du kommst
auch gar nicht in Versuchung, denn es ist durch Konven-
tion gesorgt, dass du sie nicht kennenlernst.
Dann fährst du zum Hofball. Hofball ist Dienst. Da
kann man nicht absagen. Wenn man todkrank ist, kann
man allenfalls vorher bitten, nicht eingeladen zu werden.
Aber einer Einladung – einem Befehl nicht Folge leisten,
das gibt’s nicht. »Lieber zu Hause bleiben …« Frau Käte
wagt es ja gar nicht zu sagen. Welch lächerliches Argu-
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ment: lieber stricken, lieber einen Brief schreiben lieber
bei den Kindern bleiben. Und sie muss doch nach Pöch-
lin schreiben. Sie hat für die letzte Wurstsendung von
Grossmama noch nicht gedankt. Und der Sack Kartof-
feln für den Winter und der Zentner Äpfel. Der Schinken
reicht mindestens vierzehn Tage. Die Jungens kriegen
davon aufs Brot für die Schule. Was die beiden jetzt viel
essen. Eigentlich wie erwachsene Männer. Dabei sind sie
erst acht und dreizehn Jahre. Aber sie wachsen eben. Alis
Hosen sind schon wieder zu kurz. Die kann dann Berti
tragen – aber Ali muss einen neuen Anzug haben. Diesen
Monat geht’s nicht mehr wenn nicht Grossmama
Freilich, Grossmama hat auch Sorgen. In Pöchlin gibt es
alles – nur kein Geld.
Es ist ein regenarmer Sommer gewesen. Gott weiss,
wie die Ernte war. Frau Käte sieht im Geiste ihren Va-
ter vor dem Regenmesser stehen, die Millimeter gefalle-
nen Regens abzählend. Dieses Glas, an einem angesägten
Baumstamm befestigt, ist der unheimlichste Feind ih-
rer Kindheit gewesen. Alles hing von diesem Glase ab.
Dürre der Schreck von Vater und Mutter. Dürre die
Angst des Hofgesindes. Dürre Krankheit fürs Vieh.
Dürre Missernte. Missernte Schulden. Schulden Hy-
potheken. Hypotheken – Ruin. Dann lagen weisse Staub-
decken, von der Landstrasse hergeweht, auf den Rosen
und den Ilexbüschen. Dann welkten die Bäume gelb
im Sommer. Dann riss die Erde. Dann spalteten sich die
Hufe der Pferde. Dann gediehen die unnatürlichen, wie
aus Blech gemachten Agaven vor dem Haus. Stockig und
landfremd spotteten sie des Durstes der Geranien und
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Margareten. Die Ähren im Feld blieben klein und öffne-
ten ihre Hülsen und streuten ihre spärlichen Samen auf
die harte Erde. Düster im prallen Sonnenschein lag das
Haus, und düster und schweigend gingen die Bewohner
aneinander vorüber …
Da hält der Wagen mit einem Ruck. Ein galonierter
Lakai reisst den Wagenschlag auf ein Spalier von Neu-
gierigen rechts und links glotzt auf Frau Kätes schmalen
Fuss im weissen Atlasschuh. Aber sie tritt nicht auf nas-
ses Trottoir ein dicker roter Teppich ist aufs Strassen-
pflaster gelegt, und über ihr schützt sie ein Baldachin vor
der Feuchtigkeit leisen Regens, zu dem sie dankbar auf-
blickt. Einen Augenblick zögert sie, um auf ihren Mann
zu warten. Er entsteigt dem Wagen mit Umständlich-
keit die Sporen an den Lackstiefeln zwingen ihn, seit-
wärts auf die Wagenstufen zu treten. Der pelzgefütterte
hellgraue Umhang mit dem Biberkragen liegt in reichen
Falten wie eine Schleppe auf den Stufen des Wagens. Seine
braune, knochige Hand rafft den Mantel zusammen. Ei-
nen Augenblick unwillig und dann lachend streifen seine
schwarzen, lebendigen Augen die Zuschauer. Leicht legt
er die rechte Hand an die Mütze, um dem dienernden La-
kai zu danken, dann geht er ohne jede Befangenheit, fast
wohlig berührt von den bewundernden und neidischen
Blicken der Umstehenden, auf die Wartende zu, bietet
ihr den Arm und führt sie die Stufen zum Portal hinauf.
Diese Unbefangenheit gehörte zu Major von Meinhar-
dis wie seine rechte Hand. Sie war ihm eigen und an-
geboren. Er gefiel sich und gefiel anderen. Er liess gern
durchblicken, dass er von einer spanischen Grossmut-
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ter »was abgekriegt« hatte. Seine gelbe Hautfarbe, sein
hoher Spann, seine dunkeln, weichen Haare waren un-
deutsch. Seine Regimentskameraden nannten ihn manch-
mal »alter Exote« – dann konnte er ein kleines, eitles Lä-
cheln nicht unterdrücken. Liebevoll beschützerisch führt
er seine Frau die Stufen hinauf, wie immer in ähnlichen
Fällen leise gerührt von ihrer offenbaren Schüchternheit
und Fremdheit. Dieser Zug an ihr hatte ihn ja gefangen-
genommen damals komisch, wie man in solchen Mo-
menten daran denken musste: an früher.
Es war Manöverzeit gewesen. Einquartierung. Hitze,
Staub und Müdigkeit. Fremde Männer auf müden Pfer-
den mit staubigen Stiefeln und braunen Gesichtern ritten
sie in die Lindenallee von Pöchlin ein. Das grosse, weisse,
kühle Haus öffnete sich, und drei schüchterne junge
Mädchen führten die unbekannten Gäste auf ihre Zim-
mer. Man riss die Uniform vom Leib, man badete und
fiel aufs Bett zu totenähnlichem Schlaf. Fliegen summten
am Lüster, brummten an den Scheiben. Der Leutnant von
Meinhardis zwinkerte in das grünschattige Licht uralter
Kastanien vor dem Fenster. Die Kleine, die Jüngste, wie
hiess sie? Käte er lächelt Käte. Grosse Augen ge-
sagt hat sie, glaube ich, nichts Mädchen vom Land
wie kommst du dazu, lieber Meinhardis? Du bist wohl
verrückt geworden. Wenn das die Prinzessin Schuwaloff
hört Na, und die Schermetjeff in Baden-Baden
Meinhardis und eine Käte sie lachen mich ja aus. Hier
riecht’s nach Äpfeln – denkt er weiter – sogar nach Gold-
parmänen und Reinetten. Reinetten schrumpfen wie alte
Weiber. Käte, sie wäscht sich mit Lavendel das habe
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ich gerochen, ob das weisse Kleid oder ihr Haar oder ihre
Hände: deutlich Lavendel. Bittersauber. Komisch …
Der Teufel hole diese Einquartierung. Diese leichtsin-
nigen Husaren kann ich überhaupt nicht leiden, sagt der
alte Pöchliner und klopft an sein Barometer. Aber dann
kommt doch ein Tag, wo alle weissen Türen in Pöchlin
mit dicken Girlanden aus blauen Kornblumen bekränzt
sind. Roter Mohn stand auf dem Tisch und Kerzen mit
weissen Manschetten. Und die weissen Tüllvorhänge wa-
ren gestärkt, und das Parkett spiegelte glatt. Der Pfarrer
im schwarzen Talar und dem weissen Beffchen sprach zu
Tisch den ersten Trinkspruch, und dann stellten sich die
Kameraden im roten Rock und den blauen Dolman über
der Schulter vor die Tür mit hochgekreuzten Säbeln und
liessen Braut und Bräutigam darunter wegschreiten, hin-
aus ins Leben – unter Säbeln.
Das alles blitzt vorbei, während Meinhardis langsam
die teppichbelegten Stufen hinaufschreitet. Frau Käte
fröstelt. Sie zieht den Umhang fester um sich.
Vor den Garderoben trennt man sich. Die Herren
werden von Lakaien, die Damen von Beschliesserinnen
in weissen Häubchen und Kleidern aus starrer schwar-
zer Seide in Empfang genommen. Hohe, goldgerahmte
Spiegel an den Wänden sind dazu da, den zaghaften Neu-
lingen Selbstbewusstsein einzuflössen und die sicheren
Blicke schöner Frauen mit stolzen Tiaren aus blitzenden
Brillanten aufzufangen. Erst hier lassen die ängstlichen
Hände die langen, vor Schmutz zu hütenden Schleppen
los. Erst hier knöpft man mit kleinen Knöpfen die engen
Handschuhe endgültig zu. Dicke Nähkissen mit Nadel
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und Faden stehen bereit für Unfälle aller Art. Hastiges
Begrüssen von Bekannten, inoffiziell sozusagen, denn das
eigentliche Guten-Tag-Sagen beginnt erst oben im Saal.
Es herrscht eine nervöse Stille im Raum. Man flüstert un-
terdrückt.
Drüben bei den Herren ist es anders. Da stöhnt man
laut über enge Röcke, man reckt vor dem Spiegel den Hals
aus zu hohen Kragen, man flucht über einen Riss, den
das Rasiermesser in eiliger Hand über das Kinn gezogen
hat. Man beklagt sich über Schuster, die nicht mehr ver-
stehen, hohe Lackstiefel zu machen – man fragt, wer von
auswärtigen Gästen kommen wird, und bürstet mit klei-
nen Bürstchen den Schnurrbart vorm Spiegel. Einige be-
frackte Herren fühlen sich bedrückt in ihrer Farblosigkeit,
die sie kaum mit einem roten Ordensbändchen erheitern
können. Sie kommen nicht auf gegen diese roten Kragen,
grünen Uniformen, blauen Röcke und weissen Kragen,
gegen Silber und Gold, Lack und buntes Tuch. Sie sind
blass mit ihrer Stubenfarbe gegen die wetterroten und
braunen Gesichter der Reiter. Den Claque unterm Arm
stehlen sie sich an ihnen vorüber die Minister und die
Kammerherren vom Kabinett, von denen man keine Ah-
nung hat, wo und wie sie eigentlich ihren Tag verbringen.
Eine breite Treppe, wieder mit roten Läufern belegt,
führt nach oben. Blumen säumen die Stufen. Oben steht
ein Kammerherr des Grossherzogs. In Vertretung des
Hausherrn empfängt er die Gäste. Jeder erhält hier einen
kleinen, zusammengefalteten Karton mit eingepresster
goldener Krone. Die Tanzkarte. An seidener Schnur ein
kleiner Bleistift ist bereit, die Namen der Tänzer vorzu-
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merken. Das Programm steht fest: Walzer, Polka, Rhein-
länder. Souper. Walzer, Lancier, Polka, Walzer, Rheinlän-
der, Française und Cotillon.
Alle Räumlichkeiten des alten Schlosses sind an die-
sem Abend geöffnet. Keine geschlossene Tür weit und
breit. In Gängen, an Türen stehen Lakaien in roten Li-
vreen, goldene Schnüre über der Brust, mit Kniehosen
und Escarpins. Lüster mit Hunderten von warm rotleuch-
tenden Kerzen geben mildes Licht, beleben die Gesichter
und machen die Augen erglänzen. Niemand drängt. Trotz
Enge ergibt sich ein sachtes Hin und Her. Ein Grüssen
und Begrüssen. Frau Käte gesellt sich zu einigen Damen,
während Meinhardis eifrig bemüht ist, seinen Namen auf
die Tanzkarten der besten Tänzerinnen einzutragen.
Ein Klopfen bringt das summende Geräusch der Stim-
men zum Schweigen. Man tritt zurück, und der Gross-
herzog in Paradeuniform, die Grossherzogin führend,
schreitet vorüber in den grossen Saal.
Dort beginnt der Empfang. Neue Gäste werden vorge-
stellt. Leise setzt unterdessen ein Walzer ein, und der er-
ste Tanz beginnt. Die alten Damen gruppieren sich lang-
sam an den Wänden entlang auf den Sofas, ältere Herren
ziehen sich in die Rauchzimmer zurück. Noch friert man
ein wenig, noch steht man herum, noch fühlt man sich
wenig heimisch.
Man muss so vielen Leuten guten Tag sagen, weil es
sich so gehört. Frau Käte sucht die Frau des Komman-
deurs auf, sie begrüsst die Hofdamen, die sie huldvollst,
als seien sie ihre Vorgesetzten, nach ihren Kindern fragen.
Frau Käte darf niemand beleidigen, und so, wie sie ih-
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rerseits ihren Pflichten nachkommt, so melden sich die
jüngeren Offiziere, die ihrem Mann unterstellt sind, bei
ihr. Freilich sehen sie dabei gar nicht aus, als falle diese
Pflicht ihnen schwer. Sie strahlen sie förmlich an. Man
führt Käte zum Tanz – man führt sie ans Buffet zu einem
Glas Sekt. Allmählich wird es wärmer im Raum. Schon
sind die Spitzen einer Schleppe an den Sporen eines Tän-
zers gerissen. Die Kerzen haben höhere Flammen und
betropfen tückisch die ahnungslos unter ihnen stehenden
Uniformen.
Frau Käte fliegt von Arm zu Arm. Ermüdet lässt sie
sich zu einer Gruppe älterer Damen führen und setzt sich
zu ihnen. Gern mischt sie sich in das Gespräch.
»Nein, ich lasse die Butter aus Norddeutschland kom-
men. Ich finde es sparsamer. Sie hält sich auch gut. Ich
quetsche sie in einen grossen, irdenen Topf und giesse
Wasser drauf. Fünf Kilo kommen so bedeutend billiger
»Ja, aber zum Kochen verwenden Sie sie nicht?«
»Manchmal doch –« Sie schämt sich ob ihrer Ver-
schwendung, und wie um sich zu entschuldigen: »Ich
bin ja vom Land, Exzellenz. Da ist man so verwöhnt mit
Fett …«
Und die alte Exzellenz nickt verständnisinnig.
Aber man lässt Frau Käte keine Ruhe. Ein eleganter,
grosser Offizier kommt auf sie zu, und sie erhebt sich.
»Was machen Sie denn da bei den alten Schachteln?
Da gehören Sie doch nicht hin …«
Frau Käte senkt den Kopf. Sie spürt die harte silberne
Stickerei der Uniformmanschette an ihrem Nacken. Es
tut weh. Er hält sie fester als nötig.
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»Wissen Sie denn gar nicht, dass Sie sehr grossen
Charme haben?«
Diese männliche Stimme, die da so von oben her auf
sie einredet, ist ihr peinlich. Sie wünscht, dass die Musik
zu Ende gehe. Sie ist auch etwas rot geworden.
»Sie verstecken sich viel zuviel. Sie gehen zuwenig aus,
eine junge Frau wie Sie.«
»Ach, das ist doch nichts für mich …«
»Das ist für jede Frau etwas …«, und der Mann führt
sie, nun die Musik endet, in einen Seitensalon unter eine
Stehlampe. Frau Käte hat das nicht gewollt. Aber es ist
ihr nicht gelungen zu entrinnen.
Oberleutnant von Kaisersmark setzt sich nah zu ihr.
Das altmodische Sofa ist sehr tief, und Kaisersmark sitzt
so, dass sein linkes Knie den Boden berührt, das gibt ihm
eine fast kniende Stellung. Er sagt kein Wort, sondern
seufzt nur.
»Fehlt Ihnen etwas?« fragt Käte besorgt. Sie sieht, wie
schlaff die Falten sind, die sich in Kaisersmarks Gesicht
von der Nasenwurzel zum Mund herabziehen. Schade um
das schöne Gesicht, denkt sie.
»Liebe gnädige Frau, eigentlich fällt es mir schwer, Sie
mit etwas zu erschrecken, wovon Sie lieber nichts wissen
sollten. Aber ich glaube, ich werde ein besserer Mensch
sein, wenn ich es Ihnen gesagt habe. Ich habe Schulden
gemacht und keine Aussicht, sie jemals bezahlen zu kön-
nen. Der Kommandeur hat mich verwarnt, aber ich kann
ihm nicht helfen …«
»Und Ihr Vater?«
»Er verkauft das Gut, das überlastet ist.«
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»Ihre Freunde …«
»Das ist das Schlimmste. Denen schulde ich allen.«
»Es gibt doch Bankiers …«
»Auch denen schulde ich …«
»Und nun …«
»Ja, also liebe, schöne, kleine Frau, Sie sehen mich
heute zum letzten Mal. Heute abend ziehe ich die Uni-
form aus –«, er blickt auf die gestickten Tressen, »und
morgen fahre ich mit einem Handkoffer in einen anderen
Erdteil.«
»Nach Amerika …? Und was wollen Sie denn dort
tun?«
»Ich weiss es nicht. Teller waschen, wahrscheinlich.«
Einen Augenblick ist es still. Einige junge Paare ge-
hen durchs Zimmer, und ein alter Lakai bietet Bowle,
Bier und Mineralwasser an. Kaisersmark ergreift ein
Glas Wasser und schüttet es hinunter. Käte beginnt von
neuem: »Ich verstehe nicht verzeihen Sie wie kam es
denn so – dazu …«
Kaisersmark zuckt die Achseln. »Gott, wie es eben im-
mer kommt. Mein Vater hat mich da in das teure Regi-
ment gesteckt und gedacht, ich würde ja doch bald eine
reiche Partie machen – das Geld für die ersten Uniformen
hat er sich gepumpt. Na ja, aber eine Kasinorechnung
hat man doch und standesgemäss wohnen muss man
auch. Und – zugegeben – man braucht nach dem stumpf-
sinnigen Dienst und der vielen albernen, langweiligen
Geselligkeit auch mal was anderes. Gott, ich habe mich
verliebt und das kostet eben auch Geld. Das Gehalt?
Das reicht für Zigaretten.«
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»Ja, aber …«
»Sie meinen, ich war leichtsinnig. Da haben Sie wahr-
scheinlich recht. Aber machen Sie mir das mal vor! Was-
ser trinken, wenn vierundzwanzig Kameraden beim
Mosel sitzen. Oder mit einem schlechten Pferd vor dem
Regiment herreiten. Oder alte Uniformen und geplatzte
Lackstiefel tragen. Das kann keiner. Und dann so ein
reiches Mädel überfallen Nee, ich habe es nicht fer-
tiggebracht. Die Kameraden haben mir einen geladenen
Revolver hingelegt …«
Käte reisst entsetzt die Augen auf.
»Aber ich habe ihn nicht genommen. Ich erschiess
mich nicht, ich will leben …«
»Natürlich sollen Sie leben, und vielleicht drüben
wer weiss …«
Kaisersmark nimmt Kätes Hand, beugt sich darauf
nieder: »Wollen wir jetzt tanzen gehen?«
Sie nimmt seinen Arm, und er führt sie der Walzerme-
lodie entgegen.
Im Rauchzimmer ist die Luft blau. Auf dem Tisch ste-
hen dicke Rotweinflaschen und viele Zigarrenkisten. Die
Gesichter glänzen und sind rot angelaufen.
»Nee, das kann er nicht machen, wenn er noch so ver-
liebt in das Mädel ist …«
»Gott, Axelstern, das sind doch sehr ordentliche Leute,
die Löwensteins, und reich …«
»Na ja, gut und schön, aber Juden! Und er mit seiner
Stellung bei Hof. Nee, ausgeschlossen. Wenn er so was
macht, fliegt er hier raus und sitzt übermorgen in einem
scheusslichen Grenznest, in einem Linienregiment …«

Christa Winsloe
Das Mädchen Manuela

Roman

LP 226
Paperback
ISBN 978-3-85787-826-8
Seiten 294
Erschienen 17. August 2021
€ 12.50 / Fr. 16.00

Ausgaben
Paperback (2021)
Der Roman zum Film »Mädchen in Uniform«

Manuela wird nach dem Tod ihrer Mutter in eine Internatsschule für Töchter von Militärangehörigen gebracht. Sie erlebte bis dahin eine glückliche Kindheit mit vielen Freiräumen – nun soll sie sich an Zucht und Ordnung gewöhnen. In der neuen Umgebung ist sie unglücklich, der einzige Lichtblick ist das fürsorgliche Fräulein von Bernburg. Nachdem Manuela die männliche Hauptrolle in einem Theaterstück spielen durfte und von allen bewundert und gefeiert wird, gesteht sie öffentlich ihre Liebe zu von Bernburg und berichtet auch von deren Zuneigung zu ihr. Ein Skandal. Manuela darf ihre geliebte Lehrerin nicht mehr sehen und stürzt in tiefe Verzweiflung. Ihr Leben endet in einer Tragödie.

Christa Winsloes autofiktionaler Roman widerspiegelt ihre eigenen traumatischen Kindheitserfahrungen. Ihr gelang nicht nur eine mutige Kritik an Rollenvorstellungen und Erziehungsmethoden am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Mit der psychologisch subtilen Darstellung lesbischer Liebe und dem Wunsch nach weiblicher Selbstbestimmung wirkt er auch überraschend modern.

Die Verfilmung Mädchen in Uniform (1958) mit Romy Schneider und Lilli Palmer war ein Welterfolg.

Pressestimmen

Beschämend aktuell, umwerfend, modern und unglaublich mutig.
— Sylvia Treudl, Buchkultur