LENOS
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LENOS POCKET 133
www.lenos.ch
Lenos Verlag
Nicolas Bouvier
Das Leere und das Volle
Reisetagebuch aus Japan
19641970
Aus dem Französischen
von Giò Waeckerlin Induni
Die Übersetzerin
Giò Waeckerlin Induni wuchs als Italienisch-Schweizerin in Zürich auf und
lernte früh, zwischen Sprachen und Kulturen zu wandern. Nach ausgedehnten
Auslandsaufenthalten Übersetzerausbildung in der Schweiz, in Deutschland und
in Frankreich. Ihr ganz besonderes Interesse gilt literarischen Einzelgängern. Zu
den von ihr übersetzten Autorinnen und Autoren gehören, neben Nicolas Bou-
vier, Bernardo Atxaga, Blaise Cendrars, Patrick Chamoiseau, Isabelle Eberhardt,
Romesh Gunesekera, Gisèle Pineau, N. Scott Momaday und Dai Sijie. Für ihre
Arbeit wurde Giò Waeckerlin Induni mit dem Basellandschaftlichen Kultur-
preis 1998 in der Sparte Literatur ausgezeichnet.
LENOS POCKET 133
Titel der französischen Originalausgabe:
Le Vide et le plein
Copyright © 2004 by Editions Hoëbeke, Paris
Erste Auflage 2010
Copyright der deutschen Übersetzung © 2005 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Umschlagfoto: Nicolas Bouvier (Musée de l’Elysée, Lausanne)
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 733 9
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Inhalt
Erster Teil
Kioto, die kleine Chronik
Auszug aus einem Brief 9 Februar 1964 9Kunsthand-
werk-Ausstellung der Meiji- und der Taischo-Ära 12
März 13 – Literatur 20 – März (Fortsetzung) 20 – April 23
– Am 1. Mai, der Fuchs 37 – Am nächsten Tag ist es Fh-
ling 39 Kurama-dera-Tempel 41 Mai (Fortsetzung) 43
Schinju-an 48 Literatur 52 Ryoan-ji 53 Juni 55
Gedanken zu Ruth Benedicts Buch 62 Juli 65 Der
Geist trabt 68 Auf dem ckweg vom Kumano-Nat-
schi-Schrein 70 Unterrichtswesen 73 – August 78Lite-
ratur 82In der Akupunkturschule 83 KiotoTokio 1 85
Kioto–Tokio 2 88 Kioto–Tokio 3 91 KiotoTokio 4 93
– Literatur 93Der Psalm des mukade 94 – Kioto 1967 95
Die Etikette 98 Die Frauen 100 Yukai 103 Mai 1970
104 – Weltausstellung 1970 105 – Doktor Schloegel 108
Zweiter Teil
Kleine Reise ans Kap Kioga
Dezember 1964, Abreise 115Miyama 115 – Watschi, im
Führer lesend 116 Watschi, Traum 117 Watschi, ryo-
kan 117 Auf der Strasse nach Ayabe 118 Schrein an der
Strasse nach Ayabe, 10 Uhr 119 Unterwegs nach Ayabe,
12 Uhr 122 Unterwegs nach Hioki 124 Hioki 125
6
Inetscho 126 Im Zug nach Maizuru 127 Mitternacht,
zwischen Ayabe und Kameoka 129
Dritter Teil
Tokio, die kleine Chronik
1964 133 Rituale 135 Politik 138 Betrachtungen
nebenbei 139 Die Verständigung 141 Betrachtungen
nebenbei (Fortsetzung) 142 Literatur 143 Betrachtun-
gen nebenbei (Fortsetzung) 145 – Auf Wohnungssuche
(Hommage an Gakusei Engokai) 145 Eliane 150 Ha-
ruko-san (das Horoskop) 152 Teezeremonie 153 Litera-
tur 158 Die Tradition 160 Gebete 162 Ausländer in
Japan 163Fotografien 166 Dezember 1964 167Verge-
waltigungen 170 – Weihnachten 171 – Nebensächliche Be-
trachtungen 173 Literatur 175 Matratzen 176 Januar
1965 177 Schinto 179 Die Sprichwörter 181 Die Ge-
spenster 184 Aufzeichnungen aus dem Grünen Heft 185
Februar 187 – Aufzeichnungen aus dem Grünen Heft, Fort-
setzung 188März 192 April 193 Literatur 195 – Das
No-Theater 199 September 201 Zen 202 Ehrfurcht 207
– Politik 209 1966 210 – Die Jesuiten 211Spiegel und
Wunder haben den gleichen Ursprung 214 Das Ikebana
des Fleischers 215 Stadtviertel 215 Nakano-ku 216
Abschiede 217 – Ansichtskarte 219
Worterklärungen 220
Bibliographische Hinweise 223
Erster Teil
Kioto, die kleine Chronik
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Wir wohnten damals in einem prachtvollen, strengen Tempel,
den wir mit einem australischen Töpfer, ein paar Riesentausend-
füsslern, einer stattlichen hundertjährigen Natter und friedlichen
Spinnen teilten, die jedoch geradewegs aus der Science-fiction
krochen. Mächtige Baumkronen, Zikaden und jeden Morgen
die Glöckchen und Sutren der Totengebete im Friedhof nebenan.
Bambus und Päonien. Thomas, mit einem Kescher zwischen den
Gräbern Schmetterlinge jagend. Eliane, auf ihr Kind wartend
und malend, wenn die schwierige Schwangerschaft ihr Zeit und
Kraft liess. Ich, die Landschaften Kansais entlang der Flüsse
durchstreifend, um ins Wasser zu tauchen, wenn das Blut zu
kochen begann.
So überstanden wir den heissesten Sommer des Jahrhunderts.
Ihr ttet die Stadt sehen sollen: eine Szenerie aus kleinen La-
denbesitzern, die wie Tote auf dem Strassenpflaster lagen, um die
erste Abendkühle aus dem Stein zu ziehen, aus Arbeitern, die mit
der Wange am Fächer eingenickt waren. Eine kollektive Lethar-
gie, die zwei Monate dauerte. Konkurse reihenweise, reihenweise
Selbstmorde. (Auszug aus einem Brief)
Februar 1964
Was machten die Japaner, bevor es das Radio gab? Hier
läuft es überall und pausenlos und bei voller Lautstärke.
Zur Zeit ist es dümmlicher, geschmirgelter Jacques Dal-
croze mit französischen Wörtern, die von Liebe handeln.
Und man ahnt, dass diese Liebe nie von den ihr vorgeschrie-
benen Pfaden abkommen wird. Im Takt gesungen, und alle
Noten sind ganze. In Japan kommt technische Perfektion
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oft mangelndem Erfindungsreichtum zu Hilfe. Die Sona-
tine: japanisches musikalisches Genre par excellence. Cle-
menti, der Familien-Orpheus (kein Wunder, ist doch die
Perfektion eine Art Rausch für die Japaner).
Der Immobilienmakler bietet uns ein Haus in einem Arbei-
terviertel an. Er sähe lieber uns statt Japaner dort einziehen.
Der Ausländer hat zwar Fehler, hat aber einen grossen, ent-
scheidenden, Vorteil: Nach einer gewissen Zeit geht er. Der
Japaner hingegen setzt sich für immer fest. Cousins aus der
Provinz haben in einer Fabrik Arbeit gefunden: Man rückt
zusammen, man bringt sie unter. Dann muss sich ein Be-
kannter der Familie im Krankenhaus einer Behandlung un-
terziehen: Man rückt nochmals zusammen und schafft bei
der Gelegenheit auch noch ein Plätzchen für drei Studenten
zum Beispiel. So oder so, alle diese Verwandten bezahlen
oder werden den japanischen Mieter bezahlen, und die
Einnahmen aus diesem Gewerbe gehen dem Hausbesitzer
und vor allem dem Makler durch die Lappen, denen nichts
anderes übrigbleibt, als sich damit abzufinden. Eingreifen
nnte unerwünschte Komplikationen und endlose Erörte-
rungen nach sich ziehen, und zudem stünden sie ohnehin
auf verlorenem Posten mit all dem Unausgesprochenen, Un-
bestimmten, Zögernden und Einräumenden, aus dem ein
japanisches Gespräch besteht. Jetzt schneit es. Der Makler
geht spuckend und sich grässlich räuspernd und Pillen
schluckend durch das Haus. Ich r meinen Teil möchte
den Kerl möglichst schnell loswerden. Schade ums Haus. Es
ist von einer gut sichtbaren grauen Mauer umschlossen. Mit
einer keinen Widerspruch duldenden Geste gibt er mir zu
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verstehen, dass diese Mauer dieses Haus umschliesst. Was das
angeht zumindest, sind wir uns einig. Doch als es um schiki-
kin (Sicherheit), um kenrikin (Abstandszahlung) und tessurio
(Maklergebühr) geht, habe ich den Eindruck, Bäumchen-
wechseln zu spielen. Zwar befreit er mich von der Makler-
gebühr – ein Entgegenkommen seinerseits –, dar kommt
die Abstandszahlung aufs Tapet, von der nie die Rede war.
Nicht um Bäumchenwechseln handelt es sich, sondern um
einen Taschenspielertrick: Man sieht die Handfläche, die
Kugeln sind dahinter versteckt.
Die Sprache: je her die Gesellschaftsklasse, desto komple-
xer, weil die Echos, die indirekten Folgen, die Verzweigun-
gen und Auswirkungen eines Fehlers, so harmlos er sein
mag, in direktem Verhältnis zum Ansehen stehen, das der
Sprechende sich selber zumisst oder tatsächlich geniesst.
Wenn es einem nicht gelingt, sich mit einer einfachen Ver-
käuferin zu verständigen, besteht keinerlei Hoffnung, dass
man es mit dem Abteilungsleiter schafft der etwas Eng-
lisch versteht und eigens einen Kurs besucht hat, um dem
Ausländer die Stirn zu bieten. Sie war schlicht überfordert;
er stellt dir ein hierarchisch gefestigtes Nichtverstehen ent-
gegen. Er darf sich unter gar keinen Umständen auf Impro-
visationen einlassen, die zu einer Blamage führen könnten.
Also auch nicht auf den zwar klar verständlichen japani-
schen Satz, den du an ihn richtest, der aber drei Fehler
enthält. Ein Laufbursche hingegen, eine angeheiterte Bäue-
rin oder der Fahrradkurier eines Restaurants wird sofort
verstehen: die Eile, seine bescheidene Stellung Kurz, er
ist nicht mit dieser Form von Borniertheit belastet. Not-
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falls kritzelt er einen Plan auf eine halbe Kinokarte, der
die Deutlichkeit selbst ist, und flitzt, wohin sein Fahrrad
ihn ruft.
Hinsureba tsuzuru (Armut macht erfinderisch).
Kunsthandwerk-Ausstellung der Meiji-
und der Taischo-Ära
Man kauft ein mehrseitiges Programm. Man geht hinein. Ja
und? Die Vitrinen sind fast leer: Ein geflochtener Bambus-
korb, in dem vier Äpfel Platz hätten (von einem gewissen
Rokanzai Iizuka signiert, dritter einer Dynastie von Korb-
flechtern), verfügt über ebensoviel Platz wie ein grosser
Rubens in einem unserer Museen. In einem Abstand von
ein paar Metern: ein bronzener Aschenbecher. Und in ei-
nem noch grösseren Abstand: ein Seidenschal. Alles signiert
selbstverständlich. Es soll der Eindruck erweckt werden, je-
der Gegenstand bilde den Mittelpunkt eines leeren Raums.
Und genau diesen Eindruck hat man. Ebenfalls feierlich
und andächtig und sparsam verteilt sind die Besucher,
und in diesem Raum wie in einem ungewohnten Luxus
schwimmend. Wenn man hier einen Menschen oder einen
Gegenstand ehren will, gebe man ihm Raum. Eine Stunde
lang durch diese Ausstellung gegangen, ohne herauszufin-
den, was ich davon halte; als sei alles zu immateriell, um ein
Urteil zu tragen.
Im zweiten Stockwerk die Malerei. Mehrere bis ins
kleinste Detail sorgfältig ausgeführte Farbdrucke von frag-
lichem Geschmack – eine Schlange mit weiblichem Busen,
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die eine Rose umschlingt. Eindeutig von Vuillard, Pissarro,
Munch, Elzingre, Bonbois, Rousseau inspirierte Leinwände
im »europäischen« Stil, gekonnt gemalt und schön, und
im übrigen ausser dem sich daraus ergebenden Mangel
an Frische – stören mich diese Einflüsse nicht. Selbst in den
gelungensten Bildern spürt man mehr Bemühen als künst-
lerischen Elan. Eine kleine nächtliche Landschaft jedoch
unterscheidet sich durch ihre Lebendigkeit vom Rest. Man
sagt sich: Aha, einer, der etwas gesehen hat. Man tritt näher:
Das Bild ist mit Cesario Cavalcanti signiert. Noch einer, der
das Schiff nicht nehmen konnte.
März
Im Zug nach Nara beobachte ich einen alten Bauern, dessen
runder Mongolenkopf von einem Sonnenstrahl in zwei Teile
geschnitten wird. Er hat einen kunstvoll geflochtenen Korb
auf seine Knie gestellt, im Korb sind zwei hart gekochte Eier;
er trägt Strohsandalen und weite, geflickte Baumwollhosen,
die vom vielen Waschen eine hübsche Auberginenfarbe an-
genommen haben. Er liest aufmerksam in einer bebilderten
Broschüre über … die Kathedrale St. Philibert in Tournus.
Ich sage mir: Warum sollte dieser alte bäuerliche Diogenes
im Laufe seiner Reinkarnationen nicht die römische Kunst
und die Fotografie erfunden haben? In dem Moment hebt
er die Augen, und ich verneige mich ertappt und etwas
verlegen – man weiss nicht genau, wie sich in einer solchen
Situation verhalten. Er nickt energisch und denkt sich of-
fenbar: »Nicht immer einfach, das Fotografieren, was?

Nicolas Bouvier
Das Leere und das Volle

Reisetagebuch aus Japan 1964–1970

Aus dem Französischen von Giò Waeckerlin Induni


Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-85787-364-5
Seiten 229
Erschienen 15. März 2005
€ 30.00 / Fr. 34.90

1964 reist Nicolas Bouvier zusammen mit seiner schwangeren Frau Eliane und seinem kleinen Sohn Thomas nach Japan. Seine Impressionen schreibt er in den Grünen Heften nieder – Tagebuchaufzeichnungen, die zum Teil auch in die Japanische Chronik einflossen, ein Werk, in dem Bouvier Reiseschilderung, historische Studie über die europäische Entdeckung Japans und persönliche Reflexion verband.

Fragmentarische Szenen dokumentieren Bouviers Erfahrungen und Gefühle gegenüber einem Land, das ihm bis zum Ende seines Aufenthalts fremd bleiben wird. Vielleicht gehört Das Leere und das Volle gerade deshalb zu Bouviers persönlichsten Werken, weil es seinen täglichen Kampf mit dem japanischen Way of Life reflektiert, sein Ringen um Akzeptanz beschreibt, die Momente des Glücks, aber auch seine Frustration angesichts der freundlich-höflichen Distanz. Mit leisem Humor und unermüdlicher Geduld kreist er um die fremde Kultur, immer in dem Bemühen, durch Verständnis einen Zugang zur verschlossensten Gesellschaft Asiens zu finden.

In Das Leere und das Volle versucht Bouvier nichts Geringeres, als die japanische Seele einzufangen – und wie immer gelingt es ihm, den Zauber einer anderen Welt so vollkommen in Worte zu fassen, dass die Fremdheit ihre Distanz verliert.

Pressestimmen

Ein persönlicher, provokanter Erlebnisbericht eines empfindsamen Zeitgenossen.
— Schweizer Bibliotheksdienst
Bouviers Einsichten sind scharfsinnig und quasi wohlschmeckende japanische Häppchen.
— Wolfgang Bortlik, 20 Minuten

Ausserdem lieferbar