LENOS
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Anna sichert mit dem Verkauf von Brathähnchen den Lebensunter-
halt für sich und ihren dreizehnjährigen, surfbegeisterten Sohn Léo.
Ihr Zuhause: ein Bungalow an der Atlantikküste. Doch ihr einfa-
ches, harmonisches Leben gerät plötzlich aus den Fugen: Nach ei-
nem Verkehrsunfall ist der alte Kastenwagen nicht mehr einsetzbar,
Anna verliert ihre Einkünfte, Schulden häufen sich an.
Léo kennt einen Ausweg: Eine Teilnahme am Game, einer Fern-
sehshow, die in der Gegend stattndet und in den Medien gepusht
wird, könnte die Rettung aus der Misere bedeuten. Die einzige Auf-
gabe: das zur Verfügung gestellte Auto im Wert von 50 000 Euro
anzufassen und nicht mehr loszulassen. Wer am längsten durchhält,
gewinnt. In ihrer Verzweiflung lässt Anna sich darauf ein.
Mit bissiger Ironie und treender Schärfe karikiert Joseph Incardona
den brutalen Zynismus unserer konsumorientierten Mediengesell-
schaft. Zugleich erzählt er mit viel Sensibilität von der Suche nach
Würde in einer materialistisch geprägten Welt.
Joseph Incardona, geboren 1969 in Lausanne. Der Schriftsteller und
Drehbuchautor veröentlichte zahlreiche Romane, Kurzgeschich-
ten, eaterstücke und Comics, für die er mehrfach ausgezeichnet
wurde. 2014 führte er zusammen mit Cyril Bron Regie beim Film
Milky Way. Er lebt in Genf.
Lenos Verlag
Joseph Incardona
Das Game
Roman
Aus dem Französischen
von Lydia Dimitrow
Die Übersetzerin
Lydia Dimitrow, geboren 1989 in Berlin. Studium der Allge-
meinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Berlin und
Lausanne. Autorin von eatertexten und Prosastücken (u. a.
erhielt sie 2023 eins der Berliner Arbeitsstipendien für Literatur
in deutscher Sprache) und Übersetzerin aus dem Englischen und
dem Französischen (u. a. Jamey Bradbury, Isabelle Flükiger, Bruno
Pellegrino). Für ihre Übertragung des Romans Der Zoo in Rom von
Pascal Janovjak wurde ihr 2022 der Terra Nova Preis Übersetzung
der Schweizerischen Schillerstiftung verliehen. Sie lebt in Berlin.
lydia-dimitrow.de.
Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des
Institut français.
Die Übersetzerin und der Verlag danken der Schweizer Kultur-
stiftung Pro Helvetia für die Unterstützung.
Titel der französischen Originalausgabe:
Les Corps solides
Copyright © 2022 by Finitude
Erste Auflage 2025
Copyright © der deutschen Übersetzung
2025 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlagillustration: Designer things / Shutterstock
Printed in Germany
ISBN 978 3 03925 042 4
www.lenos.ch
»Mit Märchengeschichten soll man niemals
leichtherzig umgehen.«
Bernard Moitessier
I
REICH DER TIERE
»Es heisst jetzt oder nie. Im Leben heisst es
immer jetzt oder nie.«
Rodolphe Barry
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1. Hähnchen im Glück
Die schnurgerade Strasse wird von den Scheinwerfern
des Kastenwagens erhellt. Man brauchte sie nicht, man
sähe auch so genug; so weit das Auge reicht, beleuchtet
der gelbe Mond die brachliegenden Felder. Eine Ameri-
kanische Nacht. Durch das heruntergekurbelte Fenster
auf der Fahrerseite strömt die milde Luft eines voreili-
gen Frühlings.
Mit der freien Hand tastet Anna auf dem Beifahrer-
sitz nach ihren Zigaretten. Eine schleppende Melodie
aus dem Radio untermalt die Fahrt; und wenn ich sage,
es ist eine Amerikanische Nacht, dann meine ich, mit
dem Blues, den Marlboros und der scheinbaren Weite
könnte man fast denken, man wäre dort.
Die Zigarette steckt im Mund, jetzt sucht Anna
ihr Feuerzeug. Sie lässt sich zu einem kläglichen Lä-
cheln hinreissen, es war ein wenig einträglicher Tag
fast ohne Kunden. Morgen wird sie die übrig geblie-
benen Hähnchen aufwärmen und so tun, als hätte sie
sie frisch auf dem Marktplatz gegrillt. So lässt man
seine Prinzipien fahren, wenn einem etwas die Kehle
zuschnürt.
Etwas – beziehungsweise: alles.
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Wieder einmal endet ihr Tag in roten Zahlen. Erkläre
einer mal den Kunden nach dem letzten Geügelskan-
dal um irgendwelche mit Tiermehl, Hormonen und
Antibiotika vollgestopften Viecher, dass der eigene Lie-
ferant ein lokaler Bauer ist. Ehrlich, Anna, deine Grüb-
chen, die nussbraunen Augen? Die hast du für umsonst,
gegen die Fernsehbilder von Legebatterien, die sich
trotz sogenanntem »Tierwohllabel« als bessere Apothe-
ken entpuppen, können selbst deine hautengen Jeans
und dein wenig subtiler Push-up unter dem T-Shirt
nichts ausrichten.
Und jetzt? Es ist trotz allem ein friedlicher Moment.
Der Abend, die laue Luft in deinem Haar; wie die
Sonne gemächlich vom Horizont entschwunden ist, um
ihren Platz dem Mond zu überlassen. Zu Hause gleich
ein eisgekühltes Bier, die Stille der Nacht eine Atem-
pause, bevor es morgen wieder losgeht.
Aber erst noch dem dringenden Verlangen nach einer
Zigarette nachgeben, dem Ruf nach Tabak in den Lun-
gen, so schädlich und doch so wohltuend: Finde, was
du liebst, und lass es deinen Tod sein.
Nur bleibt das Feuerzeug unaufndbar. Anna klappt
den Zigarettenanzünder auf, dieses so ungünstig in der
Mittelkonsole platzierte Teil, an das heutzutage kaum
noch jemand denkt. Endlich hört sie das Klicken und
beugt sich in genau dem Moment vor, als von links das
Wildschwein auftaucht; das Tier erstarrt im Schein-
werferlicht, zögert. Ein dumpfer Aufprall, wie wenn
ein Boot auf einen Felsen aufläuft. Die abgewetzten
Sohlen ihrer Turnschuhe rutschen über die Pedale, der
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Transporter kommt ins Schlingern und schiesst von der
Strasse. Bei neunzig Stundenkilometern erweist sich der
kaum einen Meter tiefe Seitengraben doch als verhäng-
nisvoll: Das Fahrgestell des Renault Master mit seinem
eingebauten Grill schabt über den Asphalt, die Funken
sprühen wie bengalische Zündhölzer, das Blech faltet
sich zusammen, Metall quietscht, die Doppeltür am
Heck iegt auf, und Dutzende von kopflosen Hähn-
chen verteilen sich auf der Strasse.
Der Wagen kommt zum Stehen.
Anna sitzt schräg da, der Gurt hält sie zurück und
schneidet sich ihr in den Hals. Ein stechender Schmerz
meldet sich in der Schulter. Der noch warme Zigaret-
tenanzünder rollt durch die oene Tür auf die Fahr-
bahn. Anna begreift, schnallt sich ab und springt aus
dem Wagen. Kaum ist sie ein Stück geüchtet, fängt das
Fahrzeug Feuer, Flammen ziehen sich im Zickzack über
den Asphalt, die benzingetränkten Hähnchen fangen an
zu lodern, Leuchtfeuer in der Nacht.
Sie steht da und lässt die Katastrophe auf sich wir-
ken, da hört sie ein Röcheln und fährt herum. Das
Wildschwein liegt auf der Seite, ruckartig hebt und
senkt sich sein Brustkorb. Während sein Herz sich noch
an das Leben klammert, starrt sein schwarz glänzen-
des Auge sie an. Dein Wagen steht in Flammen, aber ich
verrecke hier. Sie erkennt, dass es sich um eine Bache
handelt, bestimmt achtzig Kilo schwer, vielleicht hat
sie noch irgendwo Frischlinge. Anna müsste versuchen,
sie zu retten, aber da sind auch die Angst und die Ab-
scheu vor dem verletzten Tier. Die Schnauze der Bache
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scheint sich zu einem Lächeln zu verziehen. Anna kniet
sich hin, legt ihr eine Hand auf den Bauch, wie um sie
zu beruhigen, das Fell ist schweissgetränkt. Die Bache
schnappt. Anna weicht zurück und geht ein Stück auf
Abstand.
Da fällt ihr auf, dass ihr die nie angezündete Ziga-
rette immer noch zwischen den Lippen klemmt.
Ist das nicht ein guter Grund, um mit dem Rauchen
aufzuhören, Anna?
Anna dreht sich zu den Flammen, die zum Himmel
schlagen. In der Ferne nähert sich ein Blaulicht. Sie ist
allein mit ihrer eingedellten Zigarette zwischen den
Lippen. Sie denkt an die Dinge, die im Auto geblieben
sind: Handy, Schlüssel, Papiere.
Auf der Seitenwand des lodernden Kastenwagens
kann Anna noch immer lesen, was fünf Jahre lang ihr
kleines Geschäft war, der Kredit, das Aufstehen im Mor-
gengrauen, Tausende von gefahrenen Kilometern; sie
hatte ihm einen hübschen, etwas albernen Namen ge-
geben, in roten Lettern prangte er auf weissem Grund.
Und für eine Weile hatte es funktioniert:
Hähnchen im Glück.
*
Mit dem Nokia in Reichweite auf dem Sofa, falls sie zu-
rückrufen würde, und bei eingeschaltetem Licht in der
Küchenzeile hatte er so lange wie möglich ferngesehen
und eisern gegen das Wegdämmern gekämpft. Aber als
das Auto am Bungalow vorfährt, schreckt er aus dem
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Schlaf. Die kleine Uhr über der Spüle zeigt 0 Uhr 30. Er
schaltet den Fernseher aus und stürmt nach draussen.
Stösst sich die Schulter am Türrahmen.
Das Polizeifahrzeug hält vor der Pergola, einer einfa-
chen Holzkonstruktion mit einer grünen Plastikplane
als Dach.
»Maman!«
Anna hat noch nicht ganz die Wagentür geschlos-
sen, da prallt der Körper ihres Sohns gegen ihren. Sie
schliesst ihn in die Arme und streicht ihm mit einer
Hand durch das dicke schwarze Haar. »Alles gut, Léo,
alles ist gut.«
Die zwei Polizisten betrachten schweigend Mutter
und Sohn. Der Motor des Wagens läuft im Leerlauf, das
Licht der Scheinwerfer strahlt in den Kiefernwald ne-
ben dem Bungalow.
Anna scheint wieder einzufallen, dass die beiden Po-
lizisten noch da sind, sie dreht sich um. »Danke fürs
Bringen.«
Der Beamte am Steuer starrt sie lüstern an. »Keine
Ursache, wir nutzen die Gelegenheit und drehen hier
gleich unsere Runde. Denken Sie daran, sich die Formu-
lare für Ihre neuen Papiere in der Präfektur abzuholen.«
Bevor er den Rückwärtsgang einlegt, zwinkert er ihr
zu, als wäre sein Interesse echte Fürsorge.
Arschloch.
Anna folgt ihrem Sohn in den Bungalow. Sie zieht die
Tür hinter sich nicht zu, warum auch, die Welt ist im-
mer noch da, und die Luft drinnen riecht abgestanden.
Der Junge holt zwei Sandwiches aus dem Kühlschrank,
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die er für sie vorbereitet hat. unsch-Mayo zwischen
zwei Toastbrotscheiben. Und ein Bier, das er ihr gleich
aufmacht. Auch an eine Papierserviette denkt er.
»Danke, mein Häschen.«
Das »mein Häschen« mag Léo nicht mehr besonders.
Anna weiss das, ihr rutscht es trotzdem noch raus. Dies-
mal reagiert er nicht. Er ist dreizehn, laut Arzt bendet
er sich auf der mittleren Wachstumskurve. Allerdings
steht er schon so sehr auf eigenen Füssen, dass er ziem-
lich reif für sein Alter ist. Trotzdem: Sie sieht, wie müde
er ist, wie sehr er sich zusammenreissen muss, um ihr
Gesellschaft zu leisten.
»Hey, Léo. Geh ruhig ins Bett.«
»Ist alles okay, Maman? Hast du dir nichts getan?«
»Mir tut nur ein bisschen die Schulter weh, das geht
schon.«
»Aber du musst zum Arzt, oder?«
»Mit ein paar Tabletten geht das wieder weg.«
»Und die Hähnchen im Glück?«
»In Flammen aufgegangen …«
Da wird er wieder wacher. »Wieso hast du nichts ge-
sagt?«
»Du sollst dir keine Sorgen machen.«
»Scheisse, Maman.«
»Scheisse sagt man nicht. Wir haben ja noch die Ver-
sicherung.«
»Darum geht es nicht, du hättest sterben können!«
Jetzt sieht er sie an wie eine Überlebende.
»Was ist denn passiert?«
»Wildschwein.«
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»Was?«
»Ich habe eben Schwein gehabt.«
»Sehr witzig.«
»Der Wagen liegt im Strassengraben, aber ich lebe
noch. Glück ist auch, wenn das Pech nicht reicht.«
Anna beisst in ihr Sandwich. Sie hat keinen Hunger,
aber sie will ihren Jungen nicht enttäuschen, schliesslich
hat der an ihr Abendessen gedacht.
»Geh ins Bett. Wir reden morgen über alles, okay?«
Sie umarmen einander, Léo zieht seine Zimmertür
hinter sich zu. Sie will ihn noch ans Zähneputzen erin-
nern, dann lässt sie es bleiben.
Mit ihrem Bier und einer kleinen Metalldose, die sie
im Sicherungskasten aufbewahrt, geht Anna raus auf die
Veranda. Bald wird der Mond untergehen. Die Bäume
knarzen im Wind wie die Masten eines Segelboots, ge-
dankenverloren streicht sie sich die Kiefernnadeln aus
den Haaren.
Der wurmstichige Liegestuhl ächzt unter ihrem Ge-
wicht. Anna önet die Dose, nimmt einen der vorge-
drehten Joints heraus und steckt ihn sich an. Nach zwei
Zügen geht es ihrer Schulter schon besser. Sie würde
gern an nichts mehr denken, aber da ist eine Angst, die
in der hellen Nacht aufsteigt, ein Schatten, gegen den
selbst das Mondlicht nicht ankommt: Wenn sie den
Unfall nicht überlebt hätte, wäre Léo im Heim gelan-
det. Da ist niemand ausser ihr, und dieser Gedanke jagt
ihr einen Schauer über den Rücken. Ihr Sohn würde
von ihr nur diesen Bungalow erben, und obendrauf die
zwei Jahre Kredit.
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Also mit anderen Worten: nichts.
Ja, du hast Glück gehabt, Anna.
Du lebst.
Sie nimmt noch einen Zug von dem Gras, das sie
in einer Ecke ihres Gartens selbst anbaut. Der Körper
kommt schneller zur Ruhe als der Geist. Tatsächlich
fehlt uns noch die Fortsetzung der Unterhaltung zwi-
schen Mutter und Sohn, die Coda. Erst da ist ihr die
Angst in die Glieder gefahren: Sie wollte gerade ihr Gras
aus dem Kasten nehmen, da kam Léo noch einmal aus
seinem Zimmer und fragte sie, wie es jetzt weitergehe.
»Ich bleibe ein paar Wochen zu Hause, bis das Geld
von der Versicherung kommt und ich einen neuen Wa-
gen nde.«
Léo hatte gelächelt. »Das ist doch gut, dann sehe ich
dich öfter. Eigentlich Glück im Unglück.«
»Alles wird gut, mein Häschen.«
»Du meinst wohl: mein Hähnchen!«
Und beide hatten gelacht.
Aber jetzt, da sie allein im Mondschein sitzt, verliert
das Versprechen, das sie ihrem Sohn gemacht hat, seine
Kraft.
Annas Zuversicht schwindet.
Anna zweifelt.
Irgendetwas sagt ihr, dass die Sorgen gerade erst an-
fangen.
Roman

Aus dem Französischen von Lydia Dimitrow


Softcover
ISBN 978-3-03925-042-4
Seiten 300
Erschienen 8. April 2025
€ 26.00 / Fr. 30.00

Ein Buch zum Verschlingen.
— France Inter

Anna sichert mit dem Verkauf von Brathähnchen den Lebensunterhalt für sich und ihren dreizehnjährigen, surfbegeisterten Sohn Léo. Ihr Zuhause: ein Bungalow an der Atlantikküste. Doch ihr einfaches, harmonisches Leben gerät plötzlich aus den Fugen: Nach einem Verkehrsunfall ist der alte Kastenwagen nicht mehr einsetzbar, Anna verliert ihre Einkünfte, Schulden häufen sich an.
Léo kennt einen Ausweg: Eine Teilnahme am Game, einer Fernsehshow, die in der Gegend stattfindet und in den Medien gepusht wird, könnte die Rettung aus der Misere bedeuten. Die einzige Aufgabe: das zur Verfügung gestellte Auto im Wert von 50000 Euro anzufassen und nicht mehr loszulassen. Wer am längsten durchhält, gewinnt. In ihrer Verzweiflung lässt Anna sich darauf ein.

Mit bissiger Ironie und treffender Schärfe karikiert Joseph Incardona den brutalen Zynismus unserer konsumorientierten Mediengesellschaft. Zugleich erzählt er mit viel Sensibilität von der Suche nach Würde in einer materialistisch geprägten Welt.


Pressestimmen

So fesselnd wie eine amerikanische Serie, so intelligent wie ein Thriller, so tiefgründig wie eine Gesellschaftsanalyse.
— La Dépêche
Konsumkritik, so ironisch bissig wie sensibel verpackt.
— MOKA Das Büchermagazin
Der Roman des Genfer Schriftstellers und Drehbuchautors Joseph Incardona hat Tempo, beim Lesen geht vor dem inneren Auge ein Film ab. (…) Die Figuren sind plastisch, die Themen aktuell: Medienkrise, Klimadebatte, die allgemeine Überforderung, Verzweiflung und Erschöpfung.
— Raphael Amstutz, Keystone-SDA

Ausserdem lieferbar