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Lenos Verlag
Alaa al-Aswani
Chicago
Roman
Aus dem Arabischen
von Hartmut Fähndrich
Arabische Literatur im Lenos Verlag
Herausgegeben von Hartmut Fähndrich
Der Übersetzer
Hartmut Fähndrich, geboren 1944 in Tübingen. Studierte Vergleichende
Literaturwissenschaft und Islamwissenschaft in Deutschland und in den
Vereinigten Staaten. Seit 1972 in der Schweiz, seit 1978 Lehrbeauftragter
r Arabisch an der ETH Zürich. Für Presse und Rundfunk tätig.
Die Übersetzung aus dem Arabischen wurde unterstützt durch die
Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Latein-
amerika e.V. in Zusammenarbeit mit der Schweizer Kulturstiftung Pro
Helvetia.
Copyright © 2006 by Alaa Al Aswany
First published in Arabic as Chicago (S
ˇ
îkâgû)
Published by arrangement with the American University in Cairo Press
Copyright © der deutschen Übersetzung
2008 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Foto: Keystone / Amr Nabil
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 388 1
Chicago
Die wichtigsten Personen
Schaimâ Muhammadi: Stipendiatin am Institut für Histologie. Junge
Dame aus der ägyptischen Provinz, deren fromme Erziehung gewisse
Aspekte des Lebens ausgespart hat, die ihr in der neuen Umgebung zum
Teil auch etwas unsanft nähergebracht werden.
Târik Hussaib: Stipendiat am Institut für Histologie. Junger Mann, den
die harte Zucht seines Vaters an nichts anderes als Pflichterllung den-
ken lässt, bis er durch Schaimâs Erscheinen erst aus der Bahn geworfen
und dann auf die rechte Bahn gebracht wird.
Bill Friedman: Leiter des Instituts für Histologie. Ein eher scheuer Mann
mit viel Verständnis für die Probleme von Mitarbeitern und Studieren-
den, der gleichzeitig aber auch den Reglementen der Universität gegen-
über verantwortlich ist.
George Michael: Professor am Institut für Histologie. Konservativer und
der Wissenschaft verpflichteter Amerikaner, dem es nicht gelingt, sei-
nen offenbar tiefsitzenden Rassismus zu verbergen oder gar abzulegen.
Denis Baker: Professor am Institut für Histologie. Geduldiger und ge-
rechter Wissenschaftler, der am liebsten schweigt, aber auch brillante
Vorlesungen lt und sich mit Zivilcourage gegen akademischen Betrug
scharf zur Wehr setzt.
John Graham: Professor am Institut r Histologie. Ein Mann, Altacht-
undsechziger, der aus seinem eigenwilligen und der allgemeinen Ten-
denz widersprechenden gesellschaftlichen Denken keinen Hehl macht
und dieses auch in die Tat umsetzt.
Carol McNeilly: seine Freundin und mehrjährige Lebensgefährtin, die,
durch Not getrieben und durch Geld verlockt, sich von ihrem Freund,
den sie aufrichtig und uneingeschränkt liebt, entfernt, weil sie sein Ver-
trauen nicht voll erwidert.
Muhammad Salâch: Professor am Institut r Histologie. Seine ägypti-
sche Herkunft ist ihm Last, die er völlig abgeladen glaubt, bis sie brutal
hervorbricht und ihn in eine Nostalgie treibt, die ihn gänzlich von seiner
amerikanischen Umgebung entfernt.
Chris: seine Frau, einst Arbeiterin, die sich heiraten liess und ihrem
Mann so die amerikanische Staatsbürgerschaft und sich selbst ein re-
spektables Mittelklasseheim verschaffte, eine Lebenslüge, an der ihrer
beider Ehe kaputtgeht.
Raafat Thâbit: Professor am Institut r Histologie. Er glaubt, sich von
seiner ägyptischen Herkunft gelöst zu haben, und mimt den hundert-
nfzigprozentigen Amerikaner. Doch sein Traum von diesem Land
nimmt ein schmerzliches Ende.
Michelle: seine Frau, der offenbar die antiorientalische Haltung ihres
Mannes Mühe macht, die aber gleichzeitig etwas blauäugig ihre Tochter
ins Unglück rennen lässt.
Sarah: ihrer beider Tochter. Sie wählt in ihrer ersten Verliebtheit den
Falschen, Jeff, der sie mit Drogen bekannt macht. Für ihre Eltern, be-
sonders ihren Vater, hegt sie eine Art Hassliebe.
Jeff Anderson: ihr Freund. Er versteht sich als Künstler, eine Einschät-
zung, der nicht alle folgen. Schulisch verkrachte Existenz, träumt er vom
grossen Durchbruch und kann damit Sarah, die Professorentochter, be-
eindrucken.
Achmad Danâna: Stipendiat am Institut r Histologie, der gleichzeitig
seinen Patriotismus und seine Gottesfurcht dadurch auslebt, dass er für
die ägyptische Botschaft Spitzeldienste leistet. Unter dieser zeitrauben-
den Tätigkeit leidet sein Studium.
Murûwa Naufal: seine Frau. Junge Dame aus sehr wohlhabenden ägypti-
schen Geschäftskreisen, die erst nach der Heirat den wahren Charakter
ihres Ehemannes kennenlernt, dadurch aber ihr Selbstbewusstsein ent-
wickeln kann.
gi Abdalsamad: Stipendiat am Institut für Histologie. Er versteht sich
eher als Dichter denn als Forscher. Ausserdem engagiert er sich in der
Opposition gegen die ägyptische Regierung und träumt von einem de-
mokratischen Staat.
Wendy Shore: Nâgis Freundin, jüdisch-amerikanischer Herkunft. Sie ar-
beitet an der Chicagoer Börse und ist, trotz ihrer Zuneigung zu Nâgi,
doch rasch von den Implikationen einer Bindung mit ihm überfordert
und verlässt ihn.
Karam Dûs: Erfolgschirurg in Chicago, der, als koptischer Christ, Ägyp-
ten vor langer Zeit den Rücken gekehrt hat. Seine schlechten Erfahrun-
gen zuhause haben ihn, trotz seines Heimwehs, ein eher negatives Bild
der Ägypter bewahren lassen.
Safwat Schâkir: Chef des Geheimdienstes an der ägyptischen Botschaft.
Ein ebenso intelligenter wie erbarmungsloser Mensch, dem die Kombi-
nation dieser beiden Eigenschaften eine brillante Karriere beschert hat,
die er als hoher Politiker zu krönen hofft.
H. F.
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Wahrscheinlich wissen nur wenige, dass »Chicago« kein
englisches Wort ist, sondern den Algonkin-Sprachen ent-
stammt, derer sich einst verschiedene Indianerstämme be-
dienten. »Chicago« bedeutet in jener Sprache »kräftiger Ge-
ruch«. Dass das heutige Stadtgebiet diesen Namen erhielt,
hat damit zu tun, dass die Indianer hier früher einmal auf
weiten Feldern Zwiebeln anbauten, die einen scharfen Ge-
ruch ausströmten.
Lange Zeit lebten die Indianer friedlich am Ufer des
Michigansees, bauten ihre Zwiebeln an und weideten ihr
Vieh – bis zum Jahr 1673. Damals kam ein Reisender und
Kartograph namens Louis Jolliet in die Gegend, begleitet
von einem französischen Jesuitennch namens Jacques
Marquette. Die beiden Männer entdeckten Chicago, und es
ging nicht lange, da fanden sich Tausende von Siedlern ein
und machten sich über das Gebiet her wie Ameisen über
einen Honigtopf. In den folgenden hundert Jahren führten
diese weissen Siedler schreckliche Vernichtungskriege, wäh-
rend derer allein hier zwischen nf und zwölf Millionen
Indianer umgebracht wurden. Jedem, der sich mit ameri-
kanischer Geschichte befasst, wird das folgende Paradox
auffallen: Die weissen Siedler, die die Indianer umbrachten,
sich ihrer Gebiete bemächtigten und sich ihre Goldschätze
aneigneten, waren fromme Christen. Doch dieser Wider-
spruch klärt sich, wenn wir die herrschenden Vorstellungen
jener Zeit betrachten. Viele weisse Siedler vertraten die An-
sicht, »dass die Indianer zwar irgendwie schon zu den Ge-
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schöpfen Gottes geren, doch nicht mit dem Geist Christi
geschaffen waren, sondern mit einem anderen, schlechten
und unvollkommenen Geist«. Andere waren davon über-
zeugt, »dass die Indianer eigentlich Tiere sind, Geschöpfe
ohne Seele und ohne Gewissen; folglich tragen sie keinen
menschlichen Wert wie der weisse Mann«. Bewehrt mit
diesen weisen Theorien, erlaubten sich die Siedler, Indianer
nach Belieben und ohne den geringsten Schatten von Ge-
wissensbissen oder Schuldgefühlen zu töten. Und wie ab-
scheulich die Metzeleien auch waren, die sie tagsüber begin-
gen, sie hatten keinen trübenden Einuss auf die abendliche
Andacht. Die Vernichtungskriege endeten mit einem über-
wältigenden Sieg der Gründerter, und Chicago wurde im
Jahre 1837 zur amerikanischen Stadt erklärt. Danach erleb-
te es einen sagenhaften Aufschwung und versechzehnfachte
seine Grundfläche innerhalb von zehn Jahren. Eine wichti-
ge Rolle dabei spielten die Lage der Stadt am Michigansee
und die weiten, als Weideland geeigneten Landstriche in
der Umgebung. Dies und die neu angelegten Eisenbahn-
linien machten Chicago zur unangefochtenen nigin des
Westens.
Nun verläuft aber die Geschichte der Städte wie das
Leben der Menschen. Tage des Gcks wechseln unabläs-
sig mit solchen des Schmerzes. Der schwarze Tag Chicagos
war Sonntag, der 8. Oktober 1871. Damals lebte im Westen
der Stadt eine Frau namens Catherine O’Leary mit ihrem
Mann, ihren Kindern, einem Pferd und fünf Kühen. An
jenem Abend weideten Mrs O’Learys Tiere friedlich im
Garten hinter dem Haus. Etwa um neun Uhr folgte eine
der Kühe einer plötzlichen Laune, verliess den Garten und
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begab sich in den hinteren Schuppen, wo der Kerosinofen
ihre Aufmerksamkeit weckte. Sie strich ein wenig um ihn
herum, dann schob sie ihre Nase vor, um daran zu riechen.
Auf ein plötzliches rätselhaftes Geräusch hin trat sie gegen
den Ofen, der umkippte. Sofort lief das Brennmaterial aus
und entzündete sich auf dem Boden. Der Strohhaufen da-
neben fing Feuer, und nach wenigen Sekunden brannte das
ganze Haus lichterloh, danach die Nachbarhäuser. Der im-
mer kräftige Wind von Chicago tat das Seine dazu, und in
weniger als einer Stunde stand die ganze Stadt in Flammen.
Verschlimmert wurde die Katastrophe dadurch, dass die
Feuerwehrleute bereits von Löscharbeiten bei einem Brand
erschöpft waren, der die ganze vorhergehende Nacht gewü-
tet und einen Grossteil ihrer damals eher noch einfachen
Gerätschaften zerstört hatte. Die Feuerzungen schlugen
hoch in den Nachthimmel und verschlangen die mehrheit-
lich aus Holz gebauten Häuser Chicagos. Das Schmerzens-
geschrei der Menschen vermischte sich mit dem rm der
Flammen, die die Stadt vernichteten. Es war ein furcht-
erregendes Prasseln, wie ein grollender Fluch. Der Anblick
war grauenhaft grossartig, wie die Darstellung der lle
in den heiligen Büchern. Der Brand wütete, ohne Mitleid
und ohne Erbarmen, zwei volle Tage. Erst am frühen Mitt-
wochmorgen waren die letzten Flammen gelöscht. Und die
traurige Bilanz: dreihundert Tote und hunderttausend Ob-
dachlose – etwa ein Drittel der gesamten Bevölkerung. Der
materielle Schaden wurde, nach damaligem Wert, auf über
200 Millionen Dollar beziffert. Doch die Katastrophe war
damit noch nicht zuende. Mit Brand und Zersrung brach
auch jede Ordnung zusammen, und das Chaos breitete
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sich aus wie die Würmer im Leichnam. Umherstreunende
Gangs aus zwielichtigen und verbrecherischen Gestalten,
Diebe, Mörder, Säufer und Lüstlinge, kamen von überall
her, um in der heimgesuchten Stadt ihr Unwesen zu trei-
ben: Sie raubten die verbrannten Häuser, Läden, Banken
und Schnapslager aus. Sie kippten auf offener Strasse den
Schnaps in sich hinein und mordeten jeden, der sich ihnen
in den Weg stellte. Sie überfielen die Frauen und vergewal-
tigten sie gruppenweise und in aller Öffentlichkeit unter
Androhung von Waffengewalt. Mitten in der Heimsuchung
organisierten die Kirchen in Chicago einen speziellen Bitt-
gottesdienst für das Ende der Schmerzen. Und alle Pfarrer
nannten mit aufrichtiger Reue die Katastrophe eine gerech-
te Strafe Gottes für die unter den Bewohnern um sich grei-
fende Ketzerei und Unzucht. Die Zerstörung war umfas-
send. Wer Chicago damals sah, war fest überzeugt, dass die
Stadt unwiederbringlich am Ende sei. Doch dann geschah
etwas llig Unerwartetes. Das allumfassende Elend spornte
den Eifer an und schuf neuen Mut unter den Bewohnern
von Chicago. Als beispielsweise ein Händler namens John
Wright, der in seinem Leben von nichts anderem etwas ver-
stand als von Zahlen und Geschäften und der nicht durch
eine Neigung zu rhetorischen Formulierungen bekannt war,
als dieser Händler mit Dutzenden von entsetzten Katastro-
phenopfern zusammenstand, die nach dem Verlust all ih-
rer Habe ziellos umherirrten, regte sich in ihm plötzlich
eine rätselhafte poetische Energie, und er setzte zu einer
Ansprache an, die später in die Annalen der Stadt einging.
John Wright hob die Arme, das Gesicht unter Einfluss von
Alkohol scheinbar schmerzhaft verzerrt, und rief mit weit-
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hin vernehmlicher brüchiger Stimme: »Seid standhaft, ihr
Männer! Chicago ist nicht verbrannt, es ging nur durchs
Feuer, um sich von schlechten Elementen zu befreien und
stärker und schöner als je hervorzutreten « So flammte
der Überlebensinstinkt auf, und die urwüchsige Solidarität
brach hervor, die Menschen im Augenblick der Gefahr ver-
eint. Die Überlebenden machten sich mit unermüdlichem
Eifer an die Arbeit. Man bildete bewaffnete Gruppen aus
Freiwilligen, die bereit waren, sich r die Stadt zu opfern.
Diese nahmen den Kampf mit den Gangs auf und teten
oder zwangen sie, die Stadt zu verlassen. Dutzende von öf-
fentlichen Schutzräumen wurden geschaffen, und es regnete
Spenden, mit denen man Tausende von obdachlosen Famili-
en speiste, kleidete und gesundheitlich versorgte. Dutzende
Tausend Dollar sprudelten von überall in Amerika r den
Wiederaufbau Chicagos herein und wurden als Investitio-
nen in dortige Handelsprojekte gepumpt. Doch der Wie-
deraufbau schuf auch Probleme. Der Rat der Stadt erliess
eine Verordnung, wonach die Errichtung von Holzhäusern
verboten wurde, da diese Bauweise die Ausbreitung des Feu-
ers begünstigt hatte. Das verursachte eine Verteuerung der
Wohnungsmieten, weshalb die meisten Bewohner der Stadt
sich eine Backsteinwohnung nicht leisten konnten und auf
der Strasse blieben, zumal auch die Löhne gesunken waren,
weil Fremde zu Tausenden auf den Chicagoer Arbeitsmarkt
drängten. Die entstehende wirtschaftliche Krise trieb Heere
von Armen und Hungrigen zu gewalttätigen Demonstra-
tionen, deren zentraler Slogan »Brot oder Tod« alles sagte.
Aber das kapitalistische amerikanische System hatte, wie
üblich, auch hier eine zumindest vorläufige »Lösung« parat,

Coburger Rückert-Preis

Roman

Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich


Lenos Pocket 144
Paperback
ISBN 978-3-85787-744-5
Seiten 465
Erschienen Januar 2011
€ 6.90 / Fr. 8.50

Histologie, die Lehre vom Gewebe, sei, so heisst es einmal in Chicago, grundlegend für das Erkennen aller Krankheiten und damit die Möglichkeit ihrer Behandlung. Was läge also näher, als einen Roman, der alle möglichen interkulturellen Verhaltensmuster zeigt, »gesunde« und »kranke«, an einem Institut für Histologie anzusiedeln? Alaa al-Aswani nimmt dasjenige an der Universität Chicago, wo er selbst den Dr. med. dent. erwarb.

Es ist ein buntes Völkchen, das sich dort trifft: Männer und Frauen, Amerikaner und Ägypter, Studierende und Dozierende. Sie lieben Ägypten und verabscheuen die USA oder umgekehrt, und sie bewältigen unterschiedlich gut den Umgang mit dem Fremden. Doch der ägyptische Geheimdienst folgt ihnen wie ein Schatten. Alle ahnten es schon immer. Gewissheit erhalten sie anlässlich eines hohen Besuchs vom Nil.

Wie schon im Jakubijân-Bau gelingt es Alaa al-Aswani auch in Chicago, Privates, Öffentliches und Politisches einfühlsam und spannend zu verknüpfen.

Ausgezeichnet mit dem Coburger Rückert-Preis 2008

Pressestimmen

Ein lesenswerter, spannender und von hintergründigem Witz, berechtigter Wut und mancherlei Trauer geprägter Roman.
— Die Zeit
Emotionsgeladen und spannend, dabei mit sanfter Ironie und feinem Gespür für Situationskomik schildert al-Aswani die Probleme und Zweifel seiner Landsleute, ihre Einsamkeit auf dem so fremden Kontinent, ihre Zerrissenheit zwischen den verinnerlichten Geboten und der Freizügigkeit des Gastlandes.
— Hannoversche Allgemeine Zeitung