LENOS
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LENOS POCKET 171
www.lenos.ch
Walther Kauer
Bittersalz
Roman
Lenos Verlag
Erstmals erschienen 1984
LENOS POCKET 171
Erste Auflage 2014
Copyright © by Patrick Kauer
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Umschlagfoto: Keystone / Martin Ruetschi
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 771 1
Für Nell
Wenn du aber gar nichts hast,
Ach, so lasse dich begraben.
Denn ein Recht zum Leben, Lump,
Haben nur, die etwas haben …
Heinrich Heine
«Bittersalz: Salz von bitterem Geschmack.
Kohlensaures Magnesium, für industriellen
Gebrauch. Nebenprodukt bei der Salzgewinnung
in Salzbergwerken.»
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I
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Er lag da, mit geschlossenen Augen. Das Licht schmerzte ihn,
wenn er sie öffnete. Er konnte sich nicht rühren, nicht spre-
chen, nicht einmal die nde konnte er benutzen, um sich
verständlich zu machen. Wahrscheinlich dachten alle andern,
er sei immer noch ohne Bewusstsein – er konnte sie an seinem
Bett miteinander sprechen hören. Sie sprachen über ihn wie
über einen Toten, und insgeheim packte ihn die wahnsinnige
Angst, sie möchten ihn so begraben, wie er jetzt war – leben-
dig und doch beinahe tot. Er tröstete sich damit, dass es ihm
ja gleichgültig sein konnte, ob er hier in diesem Bett regungs-
los liegen musste, überall Verbände und Gips und Schienen,
die ihn einschnürten, oder in einem Sarg. Bloss – er war nicht
tot. Er konnte noch denken, ganz klar denken konnte er, er
rte alles um sich herum ganz deutlich, er konnte die Blu-
men riechen, die man ihm ins Zimmer gebracht hatte, Ruth
oder Dorothea oder sonstwer. Manchmal kamen sie jetzt sogar
zusammen, um ihn zu besuchen, an seinem Bett zu sitzen,
sie sprachen auch miteinander, wiederum über ihn, über den
furchtbaren Unfall und ob er wohl jemals wieder …
Er hätte schreien mögen, sie sollten damit aufren, er
nne alles deutlich hören, er könne Ruths Parm von jenem
von Dorothea unterscheiden und diese wiederum von jenen der
verschiedenen Schwestern, die in seinem Zimmer Dienst ta-
ten. Sie wechselten sich wöchentlich des Tags und des Nachts
ab, es waren fünf verschiedene Gerüche, die er unterschied,
und dann noch die Ausdünstungen der Ärzte und des Profes-
sors, er konnte auch die Hände fühlen, die an seinem Körper
herumtasteten, alles konnte er fühlen, riechen, erschnüffeln.
Er musste daran denken, dass er den Krankenschwestern sogar
jedesmal hätte sagen nnen, wenn sie mit einem Mann ge-
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schlafen hatten. So deutlich umgab ihn diese Welt von Geräu-
schen, Gerüchen und Gefühlen, und das Licht schmerzte ihn
in diesen Augen, die doch nichts mehr sehen konnten, weil
auch der Sehnerv so hatte er den Professor sagen gert
geschädigt oder gar zerstört war, irgendwo in seinem Kopf
drin waren die Drähte durchschnitten, nichts stimmte mehr:
er wollte seine Muskeln bewegen, sein Gehirn gab den Befehl
dazu, aber die Kabel waren gekappt oder zerquetscht, und der
betreffende Muskel tat, als hätte er nie im Leben einen Befehl
von diesem Gehirn bekommen, und streikte, versagte seinen
Dienst. Er konnte sich nicht hren, nur das Gehör funktio-
nierte ausgezeichnet und sein Gedächtnis auch, zumindest
teilweise. Abends bekam er Morphium, obschon er seine
Schmerzen gar nicht hätte hinausschreien nnen. Die muss-
ten das offenbar einfach wissen, dass er Schmerzen litt, gräss-
liche Schmerzen und dazu die Fragen, die sich ihm stellten:
Wieso kann Licht mich noch schmerzen in diesen Augen, ist
es doch vielleicht noch nicht zu Ende mit mir? Sein Gedächt-
nis versuchte zu arbeiten, es war seine einzige Bescftigung,
bloss – das Morphium brachte sein Gedächtnis durcheinander,
verwirrte Wachsein und Traum, er konnte nichts mehr ord-
nen, einreihen. Fher war er sehr methodisch vorgegangen,
aber früher, da konnte man lesen und vor allem schreiben
jetzt musste er nur noch denken, und er fragte sich, ob dieser
Zustand, dieses machtlose Sich-mit-sich-selbst-Beschäftigen,
wohl das sein sollte, wovon früher die Erzieher und die Theo-
logen gesprochen hatten: das läuternde Fegefeuer, das die Seele
aufnahmebereit machen sollte für das ewige Leben. Musste er
sich deshalb mit allen seinen Fehlern, Sünden, Lügen, seinen
Schurkereien, Freuden, Abenteuern auseinandersetzen, ohne
einem einzigen Menschen auch nur etwas davon mitteilen zu
nnen? Ohne sich seine Angst von der Seele reden zu können,
weil er nicht mehr sprechen konnte?
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Er brauchte sich auch nicht mehr schlaflos hin- und herzuwäl-
zen, weil er sich nicht mehr wälzen konnte. An seinen Armen
spürte er die Kanülen – gefühllos war sein Körper nicht, was
ihn masslos erstaunte. Warum können diese zerstörten und
kaputten Nerven wohl den Schmerz, aber keine Befehle mehr
transportieren? Er merkte, dass das Fenster seines Zimmers
weit geöffnet sein musste, es war Frühling, er unterschied jetzt
vereinzelte Vogelstimmen, die er früher einfach als ein Gan-
zes, als ein bei seiner Arbeit eher stiges Gezwitscher gert
hatte. Irgendwo läuteten Kirchenglocken, es war nicht das
feierliche sonntägliche Gesamtgeläute des Glockenchorals: es
war nur das Wimmern einer einzelnen Glocke. Aber vielleicht
war da einer glücklicher gewesen als er selbst und war gestor-
ben, mitten aus dem Leben hinausgestorben, ohne zuerst noch
bewegungslos, seiner Sinne nicht mehr chtig, daliegen zu
müssen und Fegefeuer abzuhalten. Er werde künstlich ernährt,
hatte der Professor den beiden Frauen an seinem Bett erklärt
und: der glichkeiten gebe es viele, es bestehe vorläufig noch
gar kein Grund zur Aufgabe mtlicher Hoffnungen. Das alles
hatte er sich anhören müssen, den genauen Befund dazu, so-
weit er dem Professor überhaupt vorlag. Noch seien nicht alle
Tests durchgeführt und einige würden, wegen Zweifeln im
Resultat, sogar wiederholt. Ausserdem werde man wohl Ge-
naueres erst sagen können, wenn auch die unbestreitbar noch
vorhandene Schockwirkung nachgelassen habe. Dies, meine
Damen, lässt doch noch etwelche Hoffnungen offen, man soll
nie aufgeben. Zudem geben wir ihm Morphium, obschon er
nicht ansprechbar ist und auch keinerlei Reflexe zeigt, darum
ist es nicht ausgeschlossen, dass er sehr starke Schmerzen zu
verspüren vermag.
Der Professor schien ein alter Hase zu sein, einer, der sich
durchaus vorstellen konnte, dass Gerson eben hören und fühlen
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nnte, also nicht einfach ein lebendiger Leichnam war. Wenn
jetzt Frühjahr war, folgerte Gerson, dann musste er bereits seit
einem halben Jahr im Krankenhaus liegen. Der Unfall war im
letzten Sommer geschehen aber wer weiss, vielleicht auch
im vorletzten oder im Sommer vor sechs Jahren –, er konnte
es nicht wissen, und aus den Gesprächen der andern hatte er
bisher nicht den kleinsten Hinweis ableiten können.
Immer wieder tauchte aber die absurde Szene vor seinem
Geist auf, die ihn von einem normalen Leben in diese Ein-
samkeit geschleudert hatte, ohne ihm eine Möglichkeit zur
Gegenwehr zu lassen. Gewiss, er war oft schon einsam ge-
wesen, überhaupt in seinem ganzen Leben einsam, das hatte
schon in seiner Kindheit begonnen und weiter nichts zu sa-
gen. Er hatte immer wieder ausbrechen, sich unter Menschen
begeben, anderes als seine Einsamkeit suchen können. Aber
so? Gefangen und gefesselt, alleingelassen mit seinen eigenen
Gedanken das war ihm noch nie geschehen! Ein schwerer
Unfall in seiner Kindheit, gewiss, auch da war er lange Zeit
wieder ein Säugling gewesen, der nochmals sprechen und ge-
hen lernen musste. Auch im Gefängnis war er sehr einsam
gewesen, aber da hatte er den Geist bewusst auf Einsamkeit
trainiert, um dem Sadismus, dem Dreck und der Gemeinheit
einigermassen unbeschadet entgehen zu können. Gott, was
r ein Leben hatte er doch geführt und wie viel hätte er jetzt
darum gegeben, einen neuen Anfang machen zu dürfen! Aber
damit war es wohl vorbei, diese Chance erhält keiner zweimal!
Er hatte die seinige dreimal erhalten und jedesmal vertan und
war sich dennoch keiner Schuld bewusst vermutlich hätte
er alles nochmals getan, und zwar genauso, wie er es getan
hatte, ohne zu gern, weil er es r recht gehalten hatte und
r richtig.
Auch Dorothea und Ruth hatten dem Professor keine Aus-
kunft geben können, woher die vielen Narben stammen nn-
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ten. Kunststück, dachte Gerson: er hatte es ihnen ja nie ge-
sagt, sie mussten nicht alles wissen.
Kochsalzlösung wurde ihm aus dem einen Tropf zugeführt,
das hatte er von der Nachtschwester gehört, von jener mit dem
starken Geruch nach starken schwarzen Zigaretten. Entweder
hatte sie einen Mann oder Freund, der viel rauchte, oder sie
war es selbst, die solches Kraut paffte. Kochsalz. Wenn die
auch nur ahnten, dass dieses unschuldige Kochsalz schuldig
war an allem, was ihm jetzt hier widerfuhr! Aber wie hät-
ten sie das wissen sollen, vielleicht mit Ausnahme von Ruth.
Aber die tat in ihren Gesprächen mit Dorothea an seinem
Bett immer so, als wisse sie von nichts, und Dorothea wie-
derum spielte das unsinnige Spiel mit und gab vor, ihrerseits
von nichts zu wissen. Die beiden hatten ja auch allen Grund,
einander in die Schürzentaschen zu lügen. Nicht einmal an
seinem Halbtotenlager konnten sie es lassen, und er musste
wie ein Idiot daliegen, ohne dazwischenfahren und kräftige
Ohrfeigen austeilen zu können denn die hatten sie verdient,
und nichts weniger!
Verdammt nochmal, wie oft hatte er in seinem Leben schon
den dummen Ausspruch getan, lieber gleich tot als noch le-
benslang ein Krüppel zu sein, womöglich im Rollstuhl. Und
jetzt war er nicht einmal in einem Rollstuhl, er war noch viel
weniger; er war einfach noch ein Stück denkendes Gehirn,
dem man nur die Steckdose hätte herauszuziehen brauchen
dann wäre das Gehirn dem bereits toten rper nachgefolgt.
Aber dazu würde sich natürlich niemand hergeben; eher jam-
merten sie noch jahrelang an seinem Lager bis zum endgül-
tigen Aus! Doch das Leben ging weiter. Gerson hatte das oft
genug gesagt und auch selbst erlebt. Er kannte damals Kame-
raden, im Militärknast, die noch die ersten paar Monate lang
besucht wurden, und dann kam der Frühling, und die fte
stiegen, und plötzlich kamen die Besuche nicht mehr und lies-

Walther Kauer
Bittersalz

Roman

Lenos Pocket 171
Paperback
ISBN 978-3-85787-771-1
Seiten 306
Erschienen August 2014
€ 16.00 / Fr. 18.50

Gerson Mittler ist ein Schriftsteller, der sich hinter Pseudonymen versteckt. Er ist in so viele Figuren hineingeschlüpft, hat unzähligen Leuten so viele Lebensgeschichten erzählt, dass er am Ende nicht mehr weiss, wer er wirklich ist und was er selbst glaubt. Er resigniert in seiner Unfähigkeit, zwischen der Realität und den Scheinwelten zu unterscheiden, die er um sich aufgebaut hat. Seine zweite Frau betrügt ihn mit einem Jugendfreund und amüsiert sich über seine Lebenskrise. Auch ihr gegenüber kann er sich nicht behaupten. Verängstigt zieht er sich immer mehr hinter seine Masken zurück. Dann lernt er beim Recherchieren über die Geschichte des Salzbergbaus durch Zufall eine Frau kennen. Auf einer gemeinsamen Radtour zu Stätten seiner Vergangenheit lernt sie begreifen, was ihn umtreibt und verunsichert. Dank ihrer Offenheit und ihres Vertrauens findet er zu sich selbst zurück. Mittler weicht nicht länger aus – auch der eigenen Ehefrau nicht. Er nimmt die Herausforderung an, die neuen Schwierigkeiten zu meistern, und beginnt zu kämpfen. Aus den Lebensjahren, die ihm verbleiben, will er für sich und andere etwas von Bestand machen. Was ihm auf überraschende Weise gelingt.

Pressestimmen

Walther Kauer erzählt in seinem siebten Roman noch geradliniger und frontaler als früher, unbekümmert und fast frech.
— Schweizer Familie