LENOS
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Vermutlich Barbara Wright: Annemarie Schwarzenbach
in Persepolis / Iran, 1935.
Lenos Verlag
Annemarie
Schwarzenbach
An den
äussersten
Flüssen
des
Paradieses
Porträt einer Reisenden
Eine Textcollage
von Roger Perret
Erste Auflage 2016
Copyright © 2016 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Neeser & Müller, Basel
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 470 3
www.lenos.ch
Ausgewählte Werke von Annemarie Schwarzenbach
Band 9
Herausgegeben von Roger Perret
Roger Perret, geboren 1950 in Zürich. Studium der Philosophie, Lite-
raturkritik und Komparatistik in Zürich. Er befasst sich publizistisch
vor allem mit Aussenseiterfiguren in der Schweizer Literatur. Heraus-
geber der Werke von Franco Beltrametti, Nicolas Bouvier, Alexander
Xaver Gwerder, Annemarie von Matt, Hans Morgenthaler, Annema-
rie Schwarzenbach und Sonja Sekula. Herausgeber (mit Ingo Starz) des
Hörbuchs Wenn ich Schweiz sage Schweizer Lyrik im Originalton von
1937 bis heute und von Moderne Poesie in der Schweiz. Eine Anthologie. Ro-
ger Perret wurde für seine editorische Tätigkeit mehrmals ausgezeich-
net.
Der Verlag dankt der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia und der
Fachstelle Kultur des Kantons Zürich für die Unterstützung.
Inhalt
I Schweiz 9
II Deutschland / Andorra 1933 13
III rkei 1933 29
IV Syrien 19331934 / 1935 47
V Libanon 1933 –1934 / 1935 61
VI Irak 1934 / 1935 71
VII Iran 1934 / 1935 87
VIII Russland 1934 / 1935 / 1937 127
IX USA 1936 –1937 / 19371938 155
X Deutschland / Baltikum 1937 195
XI Österreich / Tschechoslowakei 1938 213
XII Afghanistan 1939–1940 233
XIII USA 1940–1941 283
XIV Portugal 1941 / 1942 303
XV Afrika 19411942 313
XVI Marokko 1942 341
XVII Schweiz 1942 357
Anhang
Zu diesem Buch 369
Zur Edition 377
Quellennachweis 380
Glossar einiger Namen 409
Biographie der Reisenden Annemarie Schwarzenbach 412
Dieser Wunsch, die Sehnsucht nach dem
Absoluten, ist ja wohl der eigentliche An-
trieb jedes echten Reisenden. Vermutlich
bin ich ein solcher unheilbarer Reisender.
I
Schweiz
11
Why do we leave this loveliest country in the world?
II
Deutschland
Andorra
1933
15
Reisen ist Aufbrechen ohne Ziel, nur mit
üchtigem Blick umfängt man ein Dorf und
ein Tal, und was man am meisten liebt, liebt
man schon mit dem Schmerz des Abschieds.
Es gibt eine andere Art des Reisens: mit dem
Baedeker in der Hand und dem fertigen Pro-
gramm in der Tasche, da ist die Strecke zwi-
schen der Kathedrale von Chartres und dem
berühmten Seebad Biarritz nur eine lästige
Unvermeidlichkeit, und man weiss, was einem
die Unternehmung wert ist und was man von
ihr erwarten darf. Aber der Zauber, unterwegs
zu sein, das Geheimnis der Namen, die sich
erst mit Inhalt und Leben füllen, das Wirk-
lichkeitwerden eines Traums, das Entzücken
an der Entdeckung!
16
Manchmal begann die Dämmerung, während ich nach
Hause fuhr. Zuerst war es dunkel, und die Scheinwer-
fer warfen sich leuchtend auf den schwärzlichen Asphalt.
Dann verblassten sie langsam, die Strasse wurde hell,
und ihr Glanz ermattete. Der Himmel zwischen den
umen des Tiergartens war grau durchwogt, Wolken,
sackförmige Gebilde, Schleier und Keile schoben sich in
das weichende Schwarz, die Stämme erschienen silbrig,
zwischen den Ästen tanzten die Wellen der mme-
rung.
Wir fuhren sehr lange. Endlich fragte ich, wohin Sibylle
denn fahren wolle. »Wohin?« sagte sie. »Das weiss ich
auch nicht. Warum brauchen wir es zu wissen.«
17
ANDORRA
Wir befolgen alle komplizierten Vorschriften des Grenz-
übertritts. Wir lassen uns von den Andorranern anstarren
wie wilde Tiere, und uns ist unheimlich zumute. Kann
man mit diesen Leuten reden? Ihnen liegt nichts daran.
Sie sind stolz aber sie sehen merkwürdig proletarisch
aus, diese Schmuggler und Analphabeten. Die Älteren
unter ihnen sind richtige Bauern, trocken und halbwegs
freundlich. Die Jungen? Sie sind alle schlechter Laune
wegen des Regenwetters.
Wir waren schon daran gewöhnt: es regnete den dritten
Tag. In der Stadt macht das nichts; im Gebirge erhte es
bei gutem Willen die Romantik unserer Situation. Und
in welchem Gebirge! In den westlichen Pyrenäen, welt-
verlassen man traf weder Dorf noch Tankstelle, noch
ein anderes Auto. Unsere Strasse – eine als schwierig be-
zeichnete Passstrasse floss lehmig-gelblich unter uns
hinweg. Bei besserem Wetter wäre sie nicht so schlecht
gewesen: Jetzt kamen wir in der Stunde zwanzig Kilo-
meter weit und schätzten uns glücklich. Nach mehreren
Stunden grauer Fahrt durch den Nebel waren wir am
Rande unserer Geduld und reif für eine Unternehmung.
Und da kam es auch: ein Dorf.
Es lag nicht etwas an der Strasse; es war auch nicht
mit einem mitteleuropäischen Dorf mit Schule, Post
und Gasthaus (ach Gasthaus!) zu vergleichen. Pyrenäen-
18
neulinge hätten es erst gar nicht entdeckt, denn diese
Nester treiben eine Art von Mimikry, kleben sich an
Bergrücken, nehmen die braune Farbe von Erde und Fels
an und sehen aus, als wären sie wie Erde und Fels immer
dagewesen. Nur die Kirche ragt mitunter mit deutlich
geformtem Glockenturm und einnig blechernem Ge-
bimmel aus dem organischen Tmmerhaufen.
Also: ich steuerte, angestrengt, und sah nichts. Da-
r entdeckte meine Begleiterin mit geübtem Auge das
Dorf. Wir hielten an, liessen den Wagen im Regen ste-
hen, verbargen den Fotoapparat unter dem Mantel und
stapften einen lehmigen, abgrundtief aufgeweichten Weg
hoch. Am Eingang des Dorfes standen ein paar Maul-
esel mit gefesselten Vorderbeinen und rupften trübsinnig
Kraut und Berggras vom Wegrand. Sie schrien nicht
und wir waren froh darüber, denn schreiende Maulesel
sind nicht so komisch, wie es in den Bilderbüchern steht.
Sie wehklagen laut, sind traurig, ihre Geduld ist nicht
stumpfsinnig, sondern ergeben. »Sie sind nicht christ-
lich«, sagen achselzuckend ihre Besitzer.
Hinter den Mauleseln begann das Dorf, und wir dran-
gen ein. Ein kleines Mädchen mit einer Blume im Mund
entdeckte uns, und nun erwiesen sich die sonderbar toten
Häuser, die Ruinenmäuerchen und zerbrochenen Torein-
gänge, die Höfe voller Gerümpel und die leeren Fenster
als bewohnt. Frauen kamen, breithüftig, dunkelbraun,
und zeigten ihren Säuglingen die merkwürdigen Frem-
den. Die Kinder umstanden uns in einem Haufen, die
Kecksten versuchten, unser Regenzeug anzufassen. Die
Männer waren zurückhaltender; der Pflug war ein altes
19
Museumsstück, einer jener einfachen Eisenstachel, mit
denen man die karge Gebirgserde zwischen den Felsen
aufwühlt.
Und nun war das ganze Dorf beisammen. Nicht viele
Menschen zwanzig Erwachsene vielleicht, aber dazu
unzählige Kinder. Alle sehr schmutzig und alle mit Blu-
men zwischen den Zähnen oder hinter dem Ohr. Die
Frauen schön, ernst und stattlich, die Männer, wie man
sie nur am Meer oder im Gebirge findet. Keiner dieser
Leute hat jemals eine Stadt gesehen, keiner eine fremde
Sprache gehört, ausser ein wenig Lateinisch in der Kir-
che.
Ihre Felder sind klein wie Gemüsegärten, und von
Steinmäuerchen sorgfältig umhegt. Sie besitzen keine
Kühe, nur Schafe und Ziegen. Die Schafhirten trafen
wir später an; sie haben die Beine mit Gamaschen um-
wickelt, tragen einen Schafpelz um die Hüften und in
der Hand einen grossen blauen Regenschirm. Der Re-
genschirm ist ihre modernste Errungenschaft. Wir
wünschten, wir hätten auch einen mitgebracht, wenn
auch nur einen bescheidenen von mitteleuropäischer
Grösse. Und wir wünschten, es gäbe im Pyrenäendorf
eine Panetteria, damit wir uns Brot kaufen könnten und
vielleicht ein bisschen Schafskäse. Aber hier kann man
nichts kaufen. Dafür winkt uns ein Mann, dass wir war-
ten sollen, verschwindet in seinem Haus neben der Kir-
che und erscheint wieder, wortlos lächelnd, mit ein paar
Heckenrosen, die er uns in die Hand drückt. »Für uns?«
fragen wir gerührt. Er nickt – ein Gastgeschenk.
20
Am Morgen fuhr es fort zu schneien. Der Himmel,
bleigrau und stumpf, senkte sich ob der fast reglosen
Wolkenschicht. Der Schnee bedeckte die abgefahrenen
Hänge, häufte sich in den Mulden. Oben im Fels hing
er über zackige Ränder, Wächten bildeten sich, scho-
ben sich gefährlich vorwärts, neigten sich schwer und
sanft gerundet den Abgründen zu. Der weisse Rand des
Schwarzsees lag, still eingesunken, zwischen den verhüll-
ten Häuptern. Die Nordkante der Gamsfluh war in der
Nacht dem scharfen Wind preisgegeben und ragte jetzt,
schwarz, glattgefegt, aus dem weisslichen Meer. Der
Wind hatte sich gelegt; es schneite lautlos. Der Schnee
fiel in schweren Flocken und bedeckte rasch jede Spur.
Die Sicht war erschwert, das Auge erkannte weder An-
stieg noch Senkung. Gleichförmig, scheinbar eben lag
die Landschaft. Die Gipfel schwebten frei in unermessli-
cher Höhe, Nebelwolken umstanden sie wie Fetzen von
Rauch. Glatt und makellos senkten sich die steilen Hal-
den talwärts.
Aber plötzlich bin ich da und trete ins Freie. Es ist eine
Art von Überraschung. Man sieht den grauen Himmel,
der sich auf die braunen Felder senkt, und die Felder
dehnen sich aus bis zum Horizont. Dort gehen sie in den
Himmel über, und man kann die Farben nicht mehr un-
terscheiden. Im Wald war es warm, und die Luft war
leicht, hier strömt sie schwer auf mich ein, alles ist ge-
waltig, und die Ebene beginnt dicht vor meinen Füssen
und setzt sich fort wie ein grosser Strom. Über mir wer-

Annemarie Schwarzenbach
An den äussersten Flüssen des Paradieses

Porträt einer Reisenden. Eine Textcollage

Herausgegeben von Roger Perret


Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-85787-470-3
Seiten 416
Erschienen 2. November 2016
€ 27.80 / Fr. 32.00

Annemarie Schwarzenbachs eindrücklichste Reisetexte aus Feuilletons, Reportagen, Erzählungen, Tagebuchnotizen und Briefen.

Im Zentrum des Schaffens von Annemarie Schwarzenbach steht das Reisen. Erstmals werden in Buchform die eindrücklichsten Passagen zu diesem Thema aus Feuilletons, Reportagen, Erzählungen, Tagebuchnotizen und Briefen präsentiert. Die zum Teil unveröffentlichten Textausschnitte entstanden während der Fahrten durch Europa, nach Asien, Afrika und in die USA von 1933 bis 1942.

Die »Sehnsucht nach dem Absoluten« (Annemarie Schwarzenbach) ist der eigentliche Antrieb für die »unheilbare Reisende«, die Welt zu entdecken. Der Begegnung mit sich selbst im Spannungsfeld archaischer Landschaften widmet sie dichte poetische Beschreibungen. Zum Instrumentarium dieser Zeitzeugin und Reporterin gehören jedoch auch kritische wie hellsichtige Analysen politischer Katastrophen und sozialen Elends. Reflexionen zum Unterwegssein, das Aufbrechen und die Fortbewegung selbst ziehen sich zudem wie ein roter Faden durch diese Sammlung. Von besonderer Aktualität sind die Schilderungen der Schönheit berühmter historischer Orte wie Aleppo und Palmyra in Syrien oder Bamiyan in Afghanistan, die heute teilweise zerstört sind.

Die spezielle Form der Zusammenstellung ergibt ein Textgewebe, das zugleich Anthologie, Lesebuch und Reiseführer ist. Die verschiedenen Fahrten können durch diese Collage als eine Unternehmung, als eigentliche Lebensreise von Annemarie Schwarzenbach erfahren werden.

Pressestimmen

Dem Herausgeber Roger Perret ist eine dicht komponierte Auswahl gelungen, die Schwarzenbachs Ruf als talentierte und selbstreflexive Journalistin und Dichterin untermauert.
— Behrang Samsami, der Freitag
Anregend, spannend und poetisch: Der Band ist Lesebuch, Reiseführer und eine Biographie zugleich.
— Renata Schmid, kulturtipp
Eine zeitlose Reise durch die Schönheit und Traurigkeit dieser Welt.
— Catharina Volkert, Evangelische Zeitung