LENOS
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Lenos Verlag
Chalid al-Chamissi
Arche Noah
Roman aus Ägypten
Aus dem Arabischen
von Leila Chammaa
Die Übersetzerin
Leila Chammaa, geboren in Beirut, studierte Islamwissenschaft, Arabis-
tik und Politologie an der FU Berlin. Seit 1990 übersetzt sie arabische
Literatur ins Deutsche, zunächst ausschliesslich Prosa, seit einigen Jah-
ren auch Lyrik. Sie ist zudem als Beraterin und Gutachterin für Verlage,
Institutionen und Festivals im Bereich arabischer Literatur tätig.
Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die Förde-
rung ihrer Arbeit.
Die Übersetzung aus dem Arabischen wurde aus Mitteln der Schweizer
Kulturstiftung Pro Helvetia unterstützt durch litprom Gesellschaft
zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V.
Titel der arabischen Originalausgabe:
Safînât Nûh
.
Copyright © 2009 by Chalid al-Chamissi
Erste Auflage 2013
Copyright © der deutschen Übersetzung
2013 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Umschlagfoto: Atlantic City Convention & Visitors Authority
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 422 2
Arche Noah
Achmad Iseddîn 9
Hâgar Mustafa 39
Abdallatîf Awad 75
Farîd al-Mungi 109
Doktor Murtada al-Barûdi 141
Jassîn al-Barûdi 183
Nivîn Adli 211
Talaat Dhihni 243
Hassûna Sabri 277
Mabk al-Manû 313
Sanâa Mahrân 347
Zurück zum Anfang 373
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Achmad Iseddîn
Achmad ist ein Traum von einem Mann. Gutaussehend,
weiche Gesichtszüge, ein intensiver Blick aus tiefschwarzen
Augen, die Haut licht wie der Vollmond. Kurzum, er erin-
nert an einen Filmstar aus der Zeit vor Adel Imam
1
, Hu-
naidi
2
und dem verstorbenen Alâa Wali al-Dîn
3
. In seiner
Brust wohnt ein Juwel von Aufrichtigkeit und Warmher-
zigkeit. Seit 2003 ist er examinierter Jurist, studiert hatte er
an der Universität Kairo. Für Rechtswissenschaften hatte er
sich eingeschrieben, um den Willen seines verstorbenen Va-
ters zu erfüllen, bald aber fand er Gefallen an der Materie.
Nur mit Wirtschafts- und Finanzrecht konnte er sich beim
besten Willen nicht anfreunden. Wie ein Dorn steckten
ihm diese Fächer im Rachen, den auch noch so viel Wasser
nicht hinunterzuspülen vermochte.
Sein ganzes Studium hindurch hatte er nur eines im
Sinn: Er wollte Staatsanwalt werden. In seinen Träumen sah
er sich schon als erfolgreichen, für Gerechtigkeit sorgenden
Anklagevertreter. Entschlossen verfolgte er dieses Ziel, er
steckte den Kopf in die Bücher und erzielte beste Noten, so
dass seine Kommilitonen vor Neid erblassten. Missgünsti-
gen Äusserungen gegenüber aber war er taub. Als er eines
Abends zum Himmel schaute und der Vollmond lächelte,
versprach er dem Vater, dass er bald Staatsanwalt sein werde,
wie er es sich gewünscht hatte.
Nicht ein einziger Mann in der kleinen Familie hatte
1 Ägyptischer Schauspieler (geb. 1940). Gilt als einer der bekanntesten
Komiker in der arabischen Welt. (Alle Anmerkungen von der Übersetzerin)
2 Ägyptischer Schauspieler (geb. 1965).
3 Ägyptischer Schauspieler (1965–2003).
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lange durchgehalten. Der Vater starb, als Achmad gerade
einmal dreizehn war. Dann starb der Mann seiner Tante
mütterlicherseits, der nach dem Tod des Vaters dessen Rolle
übernommen hatte. Die Tante, nun allein, weil sie es wäh-
rend ihrer Ehe nicht geschafft hatte, eigene Kinder zu be-
kommen, klammerte sich an ihn und ihre Schwester. So
kam es, dass Achmad von Mutter und Tante wie der Hahn
im Korb gepäppelt und gehätschelt wurde. Onkel hatte er
nicht, die Grossväter waren bereits vor seiner Geburt gestor-
ben. »Würden die Frauen regieren«, fand Achmad, »dann
wäre die Welt ein viel schönerer Ort zum Leben. Aber nur«,
schob er lachend nach, »wenn sie nicht so geartet sind wie
Condoleezza Rice!«
Achmad bestand das Examen mit dem besten Prädikat
und machte sich beherzt daran, seinen Traum zu verwirk-
lichen. Doch ihm war nicht bewusst, dass er nach seinem
Abschluss vom Studentendasein in die Welt der Erwach-
senen katapultiert würde. Dass er vom Studenten, der sich
hauptsächlich mit Lernen, Träumen und Lieben befasst
hatte, zum mündigen Bürger würde und als solcher die
Logarithmen des Lebens zu bilden hätte. Dass er sich also
mit dem verfilzten Zopf der Gesellschaft aus störrischem
ägyptisch-afrikanischem Kraushaar würde auseinanderset-
zen müssen, was nur mit Tricks, Bestechung und Betrug
zu bewältigen war. Doch mit jedem Hieb, den ihm Kairo
versetzte, verlor er ein Stück seiner Naivität, die er – ebenso
wie seine bezaubernden Augen zweifellos von seiner
Mutter geerbt hatte. Eines Morgens, vom Ruf zum Son-
nenaufgangsgebet geweckt, stand er auf und ging in die
Moschee direkt nebenan. Ptzlich stellte er fest, dass seine
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Blauäugigkeit verschwunden war. Einfach von ihm abge-
fallen, als er schlaftrunken aus der kaputten Haustür trat.
Das Hymen der Kindheit nun r immer los, stolperte er
in eine unbekannte Welt. Eine Welt, die entdeckt werden
wollte und geradezu danach verlangte, dass er den Horizont
seiner Sinne erweiterte. Um 5 Uhr 57 auf der Matte neben
dem rechten Eckpfeiler kniend, begriff er, dass er zur Ver-
wirklichung seines Traums 70 000 Pfund Bestechungsgeld
brauchte. Wie Schuppen el es ihm von den Augen. Plötz-
lich sah er, was er in all den Jahren als Student trotz der
Hinweise sämtlicher Freunde nicht hatte sehen können. Die
Wahrheit überkam ihn wie eine Offenbarung. Nachdem
sein Gehirn vom Strudel der Wirklichkeit durchgerüt-
telt worden war, erkannte er klar und deutlich die heilige,
das Leben entschlüsselnde Wahrheit: »Das Tor der Staats-
anwaltschaft ist dir, kleiner Mann, verschlossen. Du hast
weder genug Speck auf den Rippen noch Vitamin B im
Rücken. Also lern beizeiten, nur so weit zu träumen, wie
deine Decke reicht.«
Nach dem Morgengebet ging er heim. Zum ersten Mal
sank er in einen tiefen, ruhigen Schlaf ohne die schönen
Träume vom Erfolg, die ihm das Leben bloss schwerge-
macht hatten.
Nachdem wir alles Mögliche getan, neu überlegt und wieder
probiert haben, sehen wir, die junge Generation, nur einen Aus-
weg: das Land zu verlassen. Hier sind wir verloren. Verloren im
Durcheinander. Verloren in Chaos und Korruption. Nicht den
kleinsten Schritt geht es voran. Wir sehen kein Licht am Ende
des Tunnels. Hier tun wir nur eines: ein Euter aus unverwüst-
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lichem Granit zu melken. Gleichzeitig dürfen wir zusehen, wie
die Menschen draussen leben. Tagsüber Arbeit. Abends und am
Wochenende geniessen sie ihre Freizeit. Der Alltag ist bestimmt
auch hart. Aber wenigstens haben die Leute Freude, Geld und
ihren Freiraum. Das Leben hier in Ägypten sieht dagegen so aus:
keine Arbeit, kein Geld, keine Ferien, keine Freiräume. Nichts von
all dem. Durch Satellitenschüsseln und das Internet werden wir
vollgepumpt mit Bildern vom schönen Leben draussen. Wir wollen
auch so leben. Wir wollen die Decke durchbrechen, die uns auf den
Kopf fällt, die jede Bewegung, jeden Atemzug erstickt. Dort gibt
es Luft, Jungen, Mädchen, Liebe, Freiheit. Selbst das spirituelle
Leben dort ist echter als bei uns. Bei all dem, was wir tagtäglich
erleben, verkommen unsere Sitten und Gebräuche. Ich will ja nichts
sagen, aber was ist denn aus uns geworden? Aussen hui und innen
pfui. Ich als Ägypter, der sein Land und das Umfeld liebt, in dem
er aufgewachsen ist, sehe, dass ich gehen muss, um meinem Land
einen Dienst zu erweisen. Ägypten will mich im Grunde doch gar
nicht. Es ist nicht imstande, mir einen Platz zu bieten. Ich habe
das Gefühl, ihm zur Last zu fallen. Es gibt nicht genug Arbeit für
uns. »Ihr seid einfach zu viele geworden. Wir wissen nicht mehr,
wohin mit euch«, lässt die Regierung bei jeder Gelegenheit verlau-
ten. Schau dir nur die Plakate überall auf den Strassen an. »Han-
deln wir bedacht, und wir alle werden satt«, steht da geschrieben.
Ist ja klar, dass die Leute den Spruch gleich umgewandelt haben in
»Handeln wir bedacht, und hauen wir alle ab«.
Wenn ich ins Ausland gehe und dort ein gutes Leben habe,
dann werde ich bestimmt einer von ihnen. Schliesslich ist das ja
dann mein neues Leben. Das Land, in dem ich mich niederlasse,
wird zu meinem Land. Aber eines gibt mir zu denken: Angenom-
men, ich gehe jetzt irgendwohin und bleibe dort eine Weile, werde
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ich dann je nach Ägypten zurückkommen? Diese Frage lässt mir
keine Ruhe. Nehmen wir also einmal an, ich setzte dort Kinder
in die Welt, würde ich meine Kinder herbringen und hier auf die
Schule schicken? Ganz sicher nicht! Bestimmt käme ich zu Besuch
nach Ägypten, mehr aber auch nicht.
Achmad erwachte erst am Abend wieder. Mutter und
Tante hatten tagsüber mehrmals in sein Zimmer geschaut
und gesehen, dass er, gleichmässig atmend und die Ge-
sichtsmuskeln llig entspannt, tief und fest schlief. Beide
hatten ihm jedes Mal kurz über die Stirn gestrichen, und
die Mutter hatte mit einem parfümierten rosa Taschentuch
den Schweiss abgetupft, der ihm auf der Haut stand. Die
Zeiger seiner Armbanduhr misstrauisch beäugend, ging
Achmad ins Wohnzimmer. Die beiden Frauen sassen ein-
ander zugewandt auf dem Sofa, vertieft in die Karten, die
sie zwischen sich ausgebreitet hatten. »Wird der Wind Gu-
tes oder Schlechtes bringen? Wird das Ungck, als Glück
getarnt, über uns kommen? Oder wird sich das Schicksal
diesmal gnädig zeigen?«
Als Achmad ins Zimmer trat, lasen die beiden gerade
seine Karten. Die Tante schaute ihn an. »Endlich, Junge!
Wir haben uns schon gefragt, ob du der Vollmond bist und
dich deshalb so rarmachst. Du hast aber lange geschlafen. Es
ist schon neunzehn Uhr.« Er setzte sich zu ihnen und starrte
auf den Bildschirm. Auf einem der vielen Satellitensender
lief eine amerikanische Serie. Die Mutter stand auf, um ihm
Frühstück, Mittagessen und Abendbrot zu bereiten. Das sei
nicht nötig, wehrte er ab, er gehe gleich aus. Er sei um acht
mit seinem Freund Jâssir von nebenan verabredet.
Roman aus Ägypten

Aus dem Arabischen von Leila Chammaa


Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-85787-422-2
Seiten 407
Erschienen Mai 2013
€ 28.00 / Fr. 32.00

In seinem Roman erzählt der Bestsellerautor Chalid al-Chamissi die ineinander verwobenen Schicksale von Menschen, die mangels Perspektiven aus Ägypten emigriert sind oder dies vorhaben.

Ein junger diplomierter Jurist findet keine seiner Qualifikation angemessene Stelle und sucht sein Glück in einer Scheinheirat mit einer Amerikanerin. Seine Exverlobte wird unterdessen von ihren Eltern genötigt, einen Ägypter zu heiraten, der in New Jersey ein Restaurant betreibt. Dessen Koch, der nach einer Odyssee durch Südamerika illegal in die USA gelangt ist, tritt in die Dienste eines zwielichtigen ägyptischen Geschäftsmanns, dessen Sohn in London ein ausschweifendes Leben führt. Da sind ausserdem der Philosophieprofessor an einer britischen Universität; dessen Cousin, der beim Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, beinahe ertrinkt; ein junger Nubier aus Assuan; ein gewiefter Menschenschmuggler; eine koptische Ärztin; eine Prostituierte. Ein Platz auf der Arche Noah ist ihre Chance für ein besseres Leben.


Pressestimmen

Präzise schildert Chamissi den Lebensweg von Ägyptern, die auf unterschiedlichsten Wegen das Land verlassen. Sie alle vereint nur eine Gewissheit: Die Zukunft ist anderswo.
— Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Ein Panorama der ägyptischen Gesellschaft in Romanform, atemlos und eindringlich.
— Rundfunk Berlin-Brandenburg

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