LENOS
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Lenos Verlag
Leila Aboulela
anderswo, daheim
Erzählungen
Aus dem Englischen
von Irma Wehrli
Die Übersetzerin
Irma Wehrli, geboren 1954 in Liestal. Studium der Anglistik, Ger-
manistik und Romanistik. Schwerpunkt ihrer Übersetzungstätigkeit
sind englische und amerikanische Autoren des 19. Jahrhunderts
und der klassischen Moderne (Hardy, Wilde, Kipling, Manseld,
Hawthorne, Whitman, Cather, Wolfe u. a.). Für ihre Übertragung
des Romans Of Time and the River von omas Wolfe wurde ihr
2011 das Zuger Übersetzer-Stipendium zugesprochen, 2017 wurde
ihr die Ehrendoktorwürde der Universität Basel für ihr Gesamtwerk
als Kulturvermittlerin verliehen. Für den Lenos Verlag übersetzte sie
When the Emperor Was Divine von Julie Otsuka und Minaret von
Leila Aboulela.
Die Übersetzerin und der Verlag danken der Schweizer Kulturstif-
tung Pro Helvetia für die Unterstützung.
Titel der englischen Originalausgabe:
Elsewhere, Home
Copyright © 2018 by Leila Aboulela
First published in the UK by Saqi Books, 2018
Erste Auflage 2022
Copyright © der deutschen Übersetzung
2022 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlagbild: vectortwins/Shutterstock
Printed in Germany
ISBN 978 3 03925 023 3
Inhalt
Altes und Neues 7
Das Museum 37
Andenken 64
Sommerlabyrinth 89
Der Strauss 110
Faridas Augen 132
Madsched 144
Der Junge aus dem Kebabshop 155
In Erwartung 173
Der Mann der Aromatherapeutin 183
Von Früchten 188
Bunte Lichter 213
Die Circle Line 224
Dank 235
Anmerkungen der Übersetzerin 237
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Altes und Neues
Ihr Land verstörte ihn. Es erinnerte ihn an das erste
Mal, als er einen menschlichen Knochen angefasst hatte,
diese ergreifende Einfachheit, diese Stärke. So war die
Gegend von Khartum; ein beinfarbener Himmel, eine
Klarheit in der Wüstenluft, Kargheit. Eher streng und
somit statisch. Er hingegen wurde von Gefühlen getrie-
ben, darum war er hier, darum hatte er Grenzen und
Meere überquert und ging nun durch einen Schwall
heisser Luft von der Gangway zum Terminal. Sie war-
tete auf ihn vor dem Eingang zum Flughafen im landes-
üblichen Gewand, einem blassorangefarbenen Tob, der
sie noch schlanker machte, als sie schon war. Ich darf
dich nicht küssen. Nein, lachte sie, das darfst du nicht.
Er hatte vergessen, wie quicklebendig sie war und wie
glücklich sie ihn machte. Sie redete und fragte ihn aus:
Bist du gut gereist, bist du hungrig, ist dein ganzes Ge-
päck angekommen, waren sie am Zoll nett zu dir, ja, ich
habe dich auch vermisst. Ihre Stimme stockte, als sie das
sagte, denn trotz ihres Zutrauens war sie scheu. Komm,
jetzt gehen wir meinen Bruder begrüssen. Sie betraten
einen chaotischen, staubigen Parkplatz, wo die Sonne
auf den Autos glitzerte.
Ihr Bruder lehnte an einem klapprigen Toyota. Er war
schlaksig und hatte einen gekränkten Blick. Er wirkte
irritiert. Vielleicht weil er seine Schwester einerseits
loswerden wollte und er andererseits Bedenken hatte,
dass sie einen Fremden heiraten wollte. Wie nahm er
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ihn denn jetzt wahr, durch diese schmalen Augen, wie
beurteilte er ihn? Da kam ein Europäer ihm die Hand
schütteln und salamu alaikum murmeln, und natürlich
trug er Jeans und ein weisses Hemd, aber für einen Aus-
länder war er eher zurückhaltend.
Sie sass vorn neben ihrem Bruder. Er sass hinten mit
seinem Rucksack, der nicht in den Koerraum passte.
Die Autositze waren schäbig, eine dünne Staubschicht
lag über allem. An den Staub werde ich mich gewöh-
nen, sagte er sich, aber nicht an die Hitze. Er könnte
ein frisches Lüftchen vertragen und den gewohnten
Geruch nach Regen. Und wenn er sie doch nur neben
sich hätte. Es irritierte ihn plötzlich, und er fand es un-
fair, dass man sie auf diese Weise trennte. Sie drehte den
Kopf nach ihm und lächelte, als ob sie Bescheid wüsste.
Du ahnst ja gar nicht, wie sehr ich nach dir verlange, lag
es ihm auf der Zunge, du hast keine Ahnung. Aber das
konnte er nicht sagen, vor allem auch darum nicht, weil
der Bruder Englisch verstand.
Es war wie eine Fahrt auf dem Rummelplatz. Die
Fenster heruntergelassen; da waren Stimmen, ein Lärm
und ein Hupen, Menschen liefen einfach über die
Strasse, verharrten in der Mitte und berührten die Au-
tos mit den Fingern, als ob diese gutmütige Kühe wären.
Jeder dieser Passanten konnte ihn mühelos durchs Fens-
ter schlagen, ihm Uhr und Sonnenbrille entreissen und
nach der Brieftasche im Hemd schnappen. Er wollte das
Fenster hochkurbeln, aber es ging nicht. Sie drehte sich
um und sagte: Es klemmt, tut mir leid. Ihre Ruhe be-
deutete ihm, nicht so nervös zu sein. Ein Trupp Schul-
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jungen lief auf dem Gehsteig, einer starrte ihn grinsend
an und winkte. Es el ihm auf, dass alle aussahen wie
sie und die gleiche Hautfarbe hatten; die Frauen wa-
ren gekleidet wie sie und bewegten sich mit der gleichen
Langsamkeit, die ihm so exotisch vorgekommen war, als
er sie in Edinburgh spazieren gehen sah.
Alles ist neu für dich; sie drehte sich um und blickte
ihn freundlich an. Der Bruder sagte etwas auf Arabisch.
Das Auto entfernte sich vom belebten Markt zu einer
breiten, schattigen Allee. Schau, sagte sie, nimm deine
Brille ab und guck. Dort ist der Nil.
Ja, da war der Nil, von einem Blau, das er noch nie
gesehen hatte, ein Kinderblau, ein Traumblau. Gefällt
er dir?, fragte sie. Sie war stolz auf ihren Nil.
Ja, er ist wunderschön, antwortete er. Doch kaum
hatte er es gesagt, bemerkte er die starke Strömung; der
Fluss war nicht unschuldig und harmlos. Bestimmt lau-
erten Krokodile unter der Oberäche, hungrige, grau-
same Tiere. Er konnte sich einen Unfall ausmalen; Blut,
Tod und Gebeine.
Und da ist dein Hotel, sagte sie. Ich habe im Hilton
für dich gebucht.
Sie war stolz, dass es in ihrem Land ein Hilton gab.
Der Wagen rollte die Zufahrt hinauf. Ein Gepäck-
träger in grellgrüner Uniform und steifem Turban
önete den Schlag, bevor er es selbst tun konnte.
(Zudem war der Wagen in einen Unfall verwickelt ge-
wesen, und die eingebeulte Tür liess sich nur von aus-
sen önen.) Der Gepäckträger nahm seinen Rucksack,
und mit dem Bruder gab es ein kleines Hin und Her
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darum, wer den Koerraum önen und den Koer
herausnehmen durfte. Sein Gepäck bestand hauptsäch-
lich aus Geschenken für ihre Familie. Sie hatte ihm
am Telefon erklärt, was und wie viel er besorgen solle.
Es würde sie kränken, hatte sie erklärt, wenn du mit
leeren Händen kommst; sie würden denken, dir liegt
zu wenig an mir.
Die Hotellobby mit dem prickelnd kühlen Blasen
der Klimaanlage, der Live-Musik und ihrer weiten Mar-
moräche war eindrucksvoll. Er fühlte sich irgendwie
besänftigt und selbstsicherer nach der holprigen Fahrt.
Als der Bruder weg war, um das Auto zu parken, und
eine Schlange vor dem Empfang entstand, hatten sie
plötzlich Zeit zum Reden.
Ich brauche ein Ausreisevisum, erklärte sie, um das
Land verlassen und mit dir zurückkehren zu können.
Um das Ausreisevisum zu bekommen, muss ich einen
Grund angeben, warum ich das Land verlasse.
Weil du meine Frau bist, sagte er, und sie lächelten
über das Wort.
Meine Frau sein wirst. Inschallah, so Gott will.
Inschallah.
Genau, sagte sie, wir werden nicht heiraten und ein-
fach weggehen können. Wir werden ein paar Tage war-
ten müssen, bis die Papiere bereit sind. Und die briti-
sche Botschaft … das ist eine Geschichte für sich.
Ich verstehe nicht, was das Problem ist, sagte er.
Oh, seufzte sie, die Leute heiraten, und dann reisen
sie ab in die Flitterwochen. Aber wir können das nicht
tun, wir müssen hier rumhängen und zwischen dem In-
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nenministerium, dem Passamt und der britischen Bot-
schaft hin- und herrennen.
Ich verstehe, sagte er, ich verstehe. Brauche ich auch
ein Ausreisevisum?
Nein, du bist Gast hier, du kannst gehen, wann du
willst. Aber ich brauche ein Visum, ich brauche einen
Grund zum Weggehen.
Okay.
Sie sahen einander an, und dann sagte er: Ich glaube
nicht, dass dein Bruder mich mag.
Ach nein, er will sicher nicht unfreundlich sein
wart’s nur ab.
Zum ersten Mal war er ihr im sudanesischen Restaurant
bei der neuen Moschee von Edinburgh begegnet. Sein
alter Chemielehrer hatte ihn nach dem Freitagsgebet
dorthin mitgenommen. Als sie die Speisekarte brachte,
empfahl sie ihnen die Erdnusssuppe, eine Spezialität des
Hauses, aber sein Lehrer wollte den Hummussalat, und
er bestellte lieber die Linsensuppe, weil er die kannte.
Er war von Natur aus vorsichtig und wollte zwar Neues,
wurde aber von einem unbestimmten Misstrauen zu-
rückgehalten. Es reichte vorerst, dass er das Nile Café
betreten hatte, er mochte sich nicht auch noch mit selt-
samen Geschmäckern herumschlagen.
Er nahm ihre Schritte wahr, als sie aus der Küche die
Treppe heraufkam. Sie trug eine Hose und ein braunes
Kopftuch, das im Nacken verknotet war. Sie hatte sehr
dunkle, mandelförmige Augen. Nach diesem Tag ging
er regelmässig allein ins Nile Café. Es lag günstig, nahe
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beim Zoologischen Institut, wo er als Labortechniker
arbeitete. Er fragte sich, ob er nach Chemikalien roch,
als sie sich vorbeugte und den Couscous vor ihn auf den
Tisch stellte.
Sie kamen ins Gespräch, weil im Restaurant nicht
viele Gäste waren und sie Zeit hatte. Das Lokal war neu,
und es hatte sich noch nicht herumgesprochen, dass es
gut war.
Inzwischen haben wir ein paar Leute von der Mo-
schee, erzählte sie ihm. Vor allem der Freitag ist ein gu-
ter Tag.
Ja, es war auch Freitag, als ich zum ersten Mal her-
kam und dir begegnete. Sie lächelte freundlich.
Er erzählte ihr, dass er früher nicht einmal gewusst
hatte, dass das grosse Gebäude neben dem Restaurant
eine Moschee war. Es gab keinen Hinweis darauf. Ich
dachte, es sei eine Kirche, sagte er, und sie lachte und
lachte. Er gab ihr ein Extratrinkgeld an jenem Tag; es
kam nicht oft vor, dass man über seine Witze lachte.
Wäre sein alter Chemielehrer nicht gewesen, wäre er
nie zur Moschee gegangen. An einer Bushaltestelle ein
Gesicht, das er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte.
Ein Gesicht, das mit einem guten Gefühl verbunden
war, mit einer Zeit der Ermutigung. Die Oberschule,
die Leichtigkeit, mit der er Laborberichte verfasst hatte.
Sie erkannten einander auf Anhieb. Wie geht es Ihnen?
Was machen Sie jetzt? Sie waren mein bester Schüler.
An der Haupt- und an der Oberschule war er Klas-
senbester gewesen, ein kluges Köpfchen. Er trat zu den
Standardprüfungen in den drei Naturwissenschaften an
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und bekam dreimal die Bestnote, und dasselbe geschah,
als er die höheren Prüfungen ablegte. Es gebe überhaupt
keinen Grund, weshalb er das Medizinstudium nicht mit
links schaen sollte, sagten seine Lehrer. Aber dann kam
er bis ins dritte Studienjahr und el durch, el nochmals
durch und war draussen. Er wurde psychologisch betreut,
und seine Eltern ermutigten ihn, aber niemand verstand
wirklich je, was da schiefgelaufen war. Er war ebenso ver-
stört über sein Versagen wie alle anderen. Sein Elan war
auf einmal verschwunden, wie amputiert. Wozu das alles,
was soll’s?, fragte er sich. Er stellte sich die Tabufragen.
Und tatsächlich – und das war das Schlimmste daran
waren es diese Fragen, die alle Dämme brechen liessen.
Rapple dich wieder auf, sagte man zu ihm. Und
er rappelte sich schliesslich tatsächlich auf, und eine
Freundin half ihm dabei, aber sie fand dann Arbeit in
London und entglitt ihm. Er war dem Medizinstudium
einfach nicht gewachsen. Es ist eine Schande, fand man
allgemein. Die Leute hatten Mitleid, aber gleichzeitig
verpassten sie ihm ein Etikett und steckten ihn in eine
Schublade: Er war ein Studienabbrecher, ein Versager.
Eines Tages, als sie ihm seinen Mittagsteller mit Au-
bergine und Hackeisch servierte, fragte er sie, ob sie
mit ihm auf Arthurs Seat
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gehen wolle. Sie war noch
nie dort oben gewesen. Es war windig, ein Sommer-
wind, der die Hüte der Touristen forttrug und ihre
Haare zauste. Doch weil ihr Haar bedeckt war, wirkte
sie proper und wie leicht entrückt von allen anderen.
Das machte den Ausug weniger unbeschwert, als er es
sich vorgestellt hatte. Sie erzählte ihm, sie sei frisch ge-
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schieden, nach sechsmonatiger Ehe. Sie lachte, als sie
von sechs Monaten und nicht sechs Jahren sprach, aber
er wusste, dass es sie schmerzte man sah es ihren Au-
gen an. Du hast wunderschöne Augen, sagte er.
Das sagt jeder, erwiderte sie. Er wurde rot und wandte
den Blick zum Grüngrau der Häuser ab, das Edinburgh
ausmachte. Sie hatte über ihre Scheidung sprechen wol-
len und war nicht auf Komplimente aus gewesen.
Sie unterhielten sich ein wenig über die Burg. Dann
erzählte er ihr von seiner Freundin, nicht von der net-
ten, die in den Süden gezogen war, sondern von der da-
vor, die ihm den Laufpass gegeben hatte. Er konnte jetzt
darüber lachen.
Sie sagte, ihr Mann habe sie gegen seinen Willen
geheiratet. Nicht gegen ihren Willen, betonte sie, son-
dern gegen seinen Willen. Er war in eine Engländerin
verliebt, aber seine Familie war dagegen gewesen und
schickte ihm das Geld nicht mehr, das er brauchte, um
sein Studium in Edinburgh fortzusetzen. Sie dachten,
ein sudanesisches Mädchen wie sie würde ihn seine
Freundin vergessen lassen, mit der er zusammenge-
lebt hatte. Sie irrten sich. Alles ging vom ersten Tag an
schief. Es ist eine dumme Geschichte, sagte sie mit den
Händen in den Taschen.
Hast du ihn geliebt?, fragte er. Ja, das hatte sie, sie
hatte ihn lieben wollen. Von seiner englischen Freundin
hatte sie nicht gewusst. Nach den Flitterwochen, als er
sie nach Edinburgh gebracht hatte und sich auf einmal
so seltsam benahm, hatte sie ihn zur Rede gestellt, und
er hatte ihr alles gestanden.
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Stell dir vor, sagte sie, seine Familie gibt mir jetzt
die Schuld an der Scheidung. Sie sagen, ich war nicht
schlau genug und hätte mich nicht ausreichend be-
müht. In ganz Khartum bringen sie mich ins Gerede.
Darum will ich auch nicht zurück. Aber ich werde es
letztlich müssen, wenn mein Visum abläuft.
Ich bin froh, dass ich nicht schwanger bin, fuhr sie
fort. Jeden Tag danke ich Allah dafür, dass ich nicht
schwanger wurde.
Danach sprachen sie über den Glauben. Er erzählte
ihr, wie er Muslim geworden war. Er sprach von seinem
ehemaligen Chemielehrer wie sie nach ihrem Treen
wieder in ihre alte Lehrer-Schüler-Beziehung zurückge-
fallen waren. Sie hörte fasziniert zu und fragte ihn aus.
Welcher Religion er denn davor angehört habe. Er sei
Katholik gewesen. Ob er immer an Gott geglaubt habe.
Ja. Warum um alles in der Welt er denn konvertiert
habe.
Sie schien fast überrascht zu sein von seinen Ant-
worten. Sie verband den Islam mit ihrer dunklen Haut,
ihrem afrikanischen Blut, ihrer persönlichen Schwach-
heit. Es leuchtete ihr nicht wirklich ein, warum einer
wie er sich den Elenden dieser Welt anschliessen wollte.
Aber er sprach voller Ergrienheit. Es brachte sie dazu,
ihn richtig anzuschauen, wie zum ersten Mal. Deinen
Eltern wird das wohl nicht gefallen, sagte sie, und dei-
nen Freunden? Sie werden es nicht schätzen, dass du
dich verändert hast. Das sage sie ganz ehrlich.
Und sie hatte recht. Einen Freund hatte er nach einer
schmerzlichen, unnötigen Auseinandersetzung verlo-
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ren, ein anderer zog sich zurück. Seine Eltern konnten
nur mit Mühe ihr Entsetzen verbergen. Sie hatten sich
seit seinem Studienabbruch um ihn Sorgen gemacht
und befürchtet, dass er in Arbeitslosigkeit, Drogen und
Depression abgleiten könnte, jene Unterwelt, die neben
ihrem tätigen Mittelstandsleben brodelnd dahintrieb.
Erst vor einer Woche hatte der Nachbarssohn sich er-
hängt (wegen Drogen natürlich, und tagelang hatte er
nicht geduscht). Es gab da eine verborgene Seuche, die
es auf junge Männer abgesehen hatte.
Trotz ihrer Bedenken wegen seines Übertritts zum
Islam mussten seine Eltern schliesslich zugeben, dass er
gut aussah; er hatte ein wenig zugenommen und eine
Gehaltserhöhung bekommen. Wenn er nur aufhören
würde, über Religion zu reden. Diese spekulative, un-
fassbare, der spirituellen Welt zugehörige Seite seines
Wesens verstanden sie nicht. Wenn er bloss die Religion
nicht erwähnen würde, ele es ihnen leichter, sich vorzu-
machen, dass sich nichts geändert habe. Er war gefestigt
genug, um ihnen den Gefallen zu tun. Und beglückt,
dass die Fragen, die er einmal gestellt hatte wozu das
alles, was hat das alles für einen Sinn und warum weiter-
machen? –, jene Fragen, die die Wände um ihn hatten
einstürzen lassen und ihn beinahe unter sich begruben,
zu ihrem Recht kamen. Es waren Fragen, auf die es Ant-
worten gab, Antworten, die zu neuen Fragen führten,
neue Türen öneten und ihn drängten, die Dinge an-
ders zu betrachten; als hielte man einen Würfel in der
Hand und drehe ihn immerzu oder als ginge man um
eine hohe Säule herum und betrachte sie von der gegen-

Saltire Fiction Book of the Year Award

Leila Aboulela
anderswo, daheim

Erzählungen

Aus dem Englischen von Irma Wehrli


Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-03925-023-3
Seiten 238
Erschienen 15. August 2022
€ 25.00 / Fr. 26.50

Nadia merkt in den Ferien in Kairo, wie fremd ihr die Heimat ihrer Mutter geworden ist. Ein zum Islam konvertierter Schotte fliegt nach Khartum, um seine Braut zu heiraten. Als ihr Onkel plötzlich stirbt, wird er mit den fremden Riten konfrontiert, die ihm mehr zu schaffen machen, als er geglaubt hatte. Farida muss sich gegen ihren strengen Vater durchsetzen, um in der Schule eine Brille tragen zu dürfen. Schadia, eine Studentin aus einer wohlhabenden sudanesischen Familie, freundet sich in Grossbritannien gegen alle Hindernisse mit einem schottischen Kommilitonen aus einer Arbeiterfamilie an.

Leila Aboulela verschränkt geschickt die Lebenswirklichkeiten in Ägypten, im Sudan und in Grossbritannien miteinander. Ihre Figuren können im »Anderswo« nicht wirklich zu Hause sein, aber die »Heimat« ihres Herkunftslandes erscheint ihnen aufgrund ihrer Migrationserfahrungen ebenso fremd. Aboulela erzählt ohne Pathos, dafür mit feinem Wortwitz und einem genauen Blick für die Sehnsüchte der Aus- und Eingewanderten.

Pressestimmen

Aboulela spielt in ihren Erzählungen alle möglichen Versuche der Verständigung durch – sommerliche Reisen in die alte Heimat, das Konvertieren zum Islam, das Aufwachsen als Kind einer gemischten Ehe.
— Lena Bopp, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Aboulelas Talent sind die Zwischentöne, die dem Klischee entgegenwirken.
— Susanna Petrin, Neue Zürcher Zeitung
In ihren intimen Porträts von Frauen in der Fremde zeichnet Leila Aboulela die Einsamkeit, die Entwurzelung, den Verlust der eigenen Kultur, die Angst vor den verächtlichen Briten nach. Ihre Figuren sind mit ihren Familien oder ihrem Ehemann nach England oder Schottland gekommen, es waren die Umstände, die sie herbrachten, nicht der eigene Entschluss. Sie fühlen sich auf die Bühne gestossen, ohne eine Rolle zu haben. Mit wenigen, präzisen Sätzen schafft sie eine berührende Nähe zu ihren Figuren, meist reichen ihr dafür eine Geste, ein Blick, ein Seufzer.
— Thekla Dannenberg, Perlentaucher
Eine der besten Kurzgeschichtenautorinnen der Welt.
— Lit Hub’s Most Anticipated Books of 2018
Aboulela erschafft vielfältige Charaktere, die ihre Herkunftskulturen nicht nur ehren, sondern auch herauszufordern wagen.
— The New York Times
Geschichten voller leiser Brillanz.
— The Guardian
Ihre Figuren sind so glaubwürdig und einprägsam, wie man sie in einem abendfüllenden Roman erwarten würde.
— The Scotsman