LENOS
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Lenos Verlag
Gerold Späth
Alyeska
Acht Geschichten
Erste Auflage 2019
Copyright © 2019 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlagbild: Veit Späth
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 497 0
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Der Verlag dankt der Stadt Rapperswil-Jona und dem Verein Kultur-
ZürichseeLinth für die Unterstützung.
Der Lenos Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Struk-
turbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
»… in der that aber sein Sie gestimbt und intonirt
wan man Bößere findet in heurope wüll ich nour hänßle haißen …«
Karl Joseph Riepp (1710–1775), Facteur d’Orgues,
1766 aus Ottobeuren an Abt Anselm II. in Salem am Bodensee.
Riepp, genialer Orgelbauer, von Ottobeuren früh nach Dijon in Burgund
ausgewandert, hat seinerzeit, ausser inzwischen weltberühmten Orgeln, nicht
minder berühmte Burgunderweine in seine süddeutsche Heimat geliefert.
»Nun muss ich gleich bey den Steinischen Pianoforte anfangen.
Ehe ich noch von Stein seiner Arbeit etwas gesehen habe, waren mir
die Spättischen Claviere die liebsten …«
Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791),
1777 aus Augsburg an seinen Vater in Salzburg.
Als Emo starb 9
Verschwinden in Venedig 25
Familienpapiere 31
Midlife Reise 55
La pistola 65
Eis und Wasser 101
Orgelwind, weiss 117
Alyeska 131
Textnachweis 181
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Als Emo starb
An jenem Tag, an Emos Todestag, waren alle Stunden
gleich lang wie vorher und gleich lang wie nachher.
Alle Stunden waren gleich jung und gleich alt, als
Emo starb.
I
Der Tag, Emos Todestag, war heiss.
Schon um halb vier dämmerte es hellgrau über
den Bergen. Die Nacht fiel in die Täler und verkroch
sich. Es tagte, schnell wurde es hell, und es wurde
warm, als die Sonne stieg. Neun Uhr war der Anfang
mörderischer Hitze: Feuer sirrte herab, raste in die
Steine, frass alle Schatten auf.
Emo lag in seiner Hütte.
Verschlossene Fensterläden. Schrägstabiges Licht,
wie Pfeile von oben durch die Ritzen.
Emo trank abgestandenes Wasser, ein paar
Schlücke nur, kleine, dünne Schlücke, und hustete,
keuchte, beruhigte sich nach einer Weile, hechelte,
atmete mühsam, wollte ganz ruhig, ganz behutsam
atmen, ganz gleichmässig.
Staub strich durch die Spalten. Und Stimmen,
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auch Geräusche von Wagenrädern und Hufen im
Wegstaub. Fliegengesumm, wenn es wieder ruhig
wurde vor der Hütte. Dann Kinderlärm und Hunde-
gekläff.
Ruhig atmen, dachte Emo und liess sein Was-
ser. Er regte sich nicht, lag still in der Nässe. Nur
keine Bewegung, keine Aufregung, ganz ruhig lie-
gen, keine Anstrengung, nichts tun, einfach nichts
tun. Warten. Am besten wartest du. Du bist ein alter
Knabe, und deine Jahre haben dich das Warten ge-
lehrt.
Emos Lippen brandeten. Er hatte Durst. Scharfer
Schweiss brach plötzlich aus seinem Gesicht und ver-
biss sich in seine Lider. Emo liess die Arme über den
Pritschenrand baumeln. Der Schweiss ätzte ihm die
Augen aus.
Du musst ruhig bleiben und warten, dachte er.
Die Fliegen schwirrten in engen Kreisen.
Emo stemmte sich noch einmal hoch. Aber am
Mittag erschlug ihn die Hitze.
Staub flirrte im Licht, das flach hereinstiess und
die Hütte mit gleissenden Wänden unterteilte, als
die Sonne endlich im Westen herabrollte.
Die Fliegen schwärmten; sie tanzten über Emos
stinkender Pritsche.
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II
Oder an einem andern Tag, als der Wind unerwartet
auffrischte, als zuerst feines Eis herabstäubte, und als
dann die fauchende Kälte kam und Schnee brachte,
als die Scheiterbeige neben dem Drahtverhau unter
die Schneewehen geriet.
Emo rieb Hände und Gesicht. Er war krank, er
fror. Der kleine Eisenblechherd war kalt. Emo hustete
und spürte das Stechen in der Brust, dieses heisse Ste-
chen, dieses rasende Reissen!
In einer Konservenbüchse schmolz er ein we-
nig Schnee. In den Winkeln hockte der Frost. Emo
knüllte noch mehr Zeitungen zusammen, und noch
eine, bald die letzte. Er stopfte dem kleinen Ofen das
Maul; es war gefrässig: das Feuer schlug hoch und
verschlang alles und gab nichts her.
Emo fand zwei Scheiter im Bratofenloch. Er ver-
splitterte sie, schnitzelte Späne, legte zuerst eine Zei-
tung hinein, schob zitternd drei Handvoll drauf. Der
kleine Herd schlang alles hinab. Eine Zeitlang blieb
der Rauch im Rohr, drückte herab, schwallte zurück
und quoll stickig aus den Löchern; dann plötzlich
jaulende Windstösse, die das kleine Feuer mit Ge-
walt aus dem Ofen in den Kamin hinaufrissen und
die dünne Wärme aufsogen, hinauszerrten wie nichts.
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Es gab nur zwei, drei Maulvoll lauwarmes Wasser.
Der Wind stiess überall herein, überall bleckte
die Kälte scharfbissig durch die Fugen. Noch am
Vormittag begann das Fieber einen höllischen Trom-
meltanz. Emos Herz hastete, wollte Schritt halten
mit dem heissen Leben.
Der Ofen war so kalt wie zuvor. Es wurde Nach-
mittag; die Eisböen liessen nicht nach, sie schrien
von weit her und sprangen die Hütte an, verkrallten
sich.
Kurz vor Mitternacht fisperte Emo etwas Unhör-
bares in den Sturm. Dann schwieg er, und alles fror,
wurde stocksteif.
III
Als Emo starb, schlugen die Gewitterwellen über
ihm zusammen. Er wurde in die Strömung geschleu-
dert, das Wasser sog ihn hinab; es verrenkte ihm die
Arme, riss den Schuh von seinem linken Fuss.
Ein paar Männer in knalligen Schwimmwesten,
mit straff ums Kinn gezurrten Südwesterriemen wag-
ten sich mit einem schweren Kahn hinaus. Sie war-
fen Leichenhaken über Bord, um Emo anzuschrenzen
und herauszufischen.
In vier Schüben rasten schwere schwarze Wolken-
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säcke seeaufwärts. Der ganze Zeltplatz flügelte bau-
schig in die Böen hinauf.
Am andern Morgen fand man Emos linken Schuh
zwischen den Wellenbrechersteinen draussen vor der
Mole. Mehr wurde nie gefunden.
IV
Emo wurde seines Alters oder seiner Jugend we-
gen aussortiert und neben dem Ausladplatz dorthin
getrieben, wo eine Kinderschar verstört wimmerte
und nicht wusste, wohin. Grosse Augen. Gekeuch.
Gehuste. Bärte und beruhigendes Gemurmel der
Greise.
Dann eine Menschenherde auf dem Marsch.
Uniformen. Befehle. Glänzendes Lederzeug. Und
endlich Luft nach der beklemmenden Enge, frische
Luft und Bewegung. Kein Uringestank mehr, kein
Angstschweissgeruch, kein Gestank mehr von fau-
lem, nassem, verhocktem Stroh. Frische frostige Luft.
Emo atmete tief. Als er seine Lungen füllte, sah er
mit geschlossenen Augen während eines kurzen Au-
genblicks ein sonngleissendes Schneefeld.
Die Kleider waren sorgfältig gebündelt auf die
lange Wandbank zu legen: alle fünfzig Zentimeter
ein sauberes Bündel. Es wurde streng auf Ordnung
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geachtet. Die Schuhe mussten links mit rechts ver-
nestelt werden. Jeder Haken an der Holzwand eine
Nummer. Die Nummer sechsundneunzig tilgte
Emos Namen.
Aber der Winter ist vorbei, die Sonne fächert über
die morastigen Tümpel, und der Wegstaub trocknet
schon fleckweis. Wieder atmet Emo tief und schliesst
seine Augen.
Da werden die eisernen Tore zugeschlagen; sie
scheppern krachend ins Schloss.
Und jetzt Gerede, was so geredet wird, aber ha-
stiger, plötzlich aufgeregt, plötzlich furchtsam. Was
soll man glauben? Man wird sehen, gewiss, man wird
sehen, aber was ist das?
Jemand schreit, und eine Frau ruft es laut: »Sie
wollen uns umbringen!« Und viele schreien, viele
schlagen jetzt um sich, viele brüllen, einige erbre-
chen sich, einige klappen schon zusammen, krüm-
men sich, werden käsig, sacken ächzend ein.
Die Luft, es ist die verbrauchte Luft! Gift in der
Luft! Gift!
Emo schnaufte mit aufgerissenem Mund. Er
reckte sich an der Säule empor, wollte steigen; hinauf,
hoch über alle hinauf, hinaus wollte er, hinaus aus der
Gasfalle.
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Es fuhr wie Stahl glatt in seine Kehle, und seine
Brust barst.
Nach zwanzig Minuten lagen alle nackt überein-
ander: ein Schwarm erstickter Fische in einem ausge-
laufenen Trog.
V
Oder sie schlugen ihn. Seine Hände krümmten sich
oben in den Strickschlaufen und verkrampften, ver-
färbten, schwollen blau an. Emo stand auf den Zehen-
spitzen. Fusstritte brachten ihm das Baumeln bei. Sie
traten in seinen Bauch und schlugen mit Ziemern.
Emos Blut drang durch den Hosenstoff. Er wusste
nicht, was sie von ihm wollten. Er wusste nichts.
Er hörte Gelächter und gehässiges Geschrei. Er
wollte schlafen. Striemen rissen quer über sein ver-
schwollenes Gesicht. Der Schmerz über und über
peitschte sein Herz in einen rasenden Totentanz.
Seine klumpige Zunge flatterte sinnlos.
Zuunterst am Boden hatte Emo zuerst gefroren.
Wer zuunterst lag, fror und konnte nicht schlafen vor
Kälte; das wusste jeder. Zuunterst waren die Neuen,
die Anfänger, zuunterst lagen nur Leute mit Hoff-
nung auf irgend etwas. Emo war aufgestiegen, weil
über ihm gestorben wurde. Es starben viele. Jeden
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Tag starben mindestens anderthalb oder zwei Dut-
zend oder mehr. Nach sechs Tagen hatte Emo sei-
nen Platz zuoberst auf der dreistöckigen Pritsche. Er
musste sich wehren. Jeder wollte zuoberst in der stin-
kigen Wärme schlafen.
Sie schnitten Emo vor dem Abendappell ab.
Er schlug plump auf den Steinboden. Einer zielte
und schoss schräg vor sich hin. Emo warf den Kopf
herum. Seine geplatzten Augen waren halb geöffnet.
Er wurde an den Beinen hinausgeschleift. Über sei-
nen linken Mundwinkel quoll traniges Blut hervor.
VI
Emo war guter Laune. Ein wenig müde, das schon,
aber fröhlich am warmen Abend. Es waren schöne
Frauen da, eine gepflegte Gesellschaft mit blan-
ken Zähnen und feinen Manieren. Das kalte Buffet:
Lachs, Schinken, Kaviar, Gambas, Hummer, Oliven,
Artischocken, geräucherte Forellen, Gänseleber-
pastetchen, Austern, Roastbeef und so weiter, Ma-
yonnaise und andere Saucen, dazwischen allerlei Sa-
late.
Der Mond ging auf, Lampions leuchteten. Musik.
Eiswürfelgeklirr in beschlagenen Gläsern. Geplauder,
Scherze, fröhliches Lachen, Erinnerungen, Pläne.
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»Sehen Sie, jener Stern dort, das ist die Venus, der
Abendstern, sehen Sie? Luzifer ist sein anderer Name.
Und vor Sonnenaufgang ist’s der Morgenstern.«
»Es ist so schwül, finden Sie nicht?«
»Ja, ein wenig schwül, aber das macht nichts,
nicht wahr?«
Emo spürte, wie ihm flau wurde. Er fixierte einen
gelben, sonngesichtigen Lampion und schluckte hef-
tig. Dann erbrach er sich abseits in der Dunkelheit
hinter den Oleanderbüschen. Seine Augen tränten.
Er schwankte; der Parkmauer entlang wollte er zum
Teich, um sein Gesicht zu waschen. Er tappte ein paar
Schritte im Zwielicht der wechselnden Beleuchtung
der Wasserspiele.
Dann schrie eine Frau.
Dann sah er nackte Schultern über sich und lange
rote Haare und eine weisse Blume im roten Haar.
Dann würgte es knollig in ihm hoch; er bäumte
sich und sah grelles Licht.
Dann sah er nichts mehr.
Jemand riss das Hemd über Emos Brust auf.
Jemand brachte ein nasses Tuch.
Jemand zerstäubte Parfum.
Jemand brachte eine Serviette voll Eiswürfel und
ein Glas Cognac.
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Jemand sagte, er sei Arzt.
Zu viert beugten sie sich über Emo. Eine Frau
schlug die Hände vor ihr Gesicht und weinte.
Jemand rief: »Emo! Emo!« – aber da war er schon
tot.
VII
Als Emo starb, schauten viele Leute zu, die dafür be-
zahlt hatten, ein schnelles Rennen zu sehen.
Emo sah den rauchenden Wagen quer in der Piste
liegen. Schaumlöscherstrahlen fauchten in die Stich-
flammen. Ein Rad trudelte ihm entgegen. Ein Strek-
kenwart winkte. Emo wollte ausweichen. Er bremste,
die Pneus jaulten.
Die Bremsen winselten, als Emo in die Flam-
men raste und die überrundete Startnummer zwölf
rammte. Fotografen rannten herbei.
VIII
Als Emo starb, fielen Bomben. Sie kreischten vrillend
herab, schrammten auf, barsten, versprühten Feuer-
garben, und glühende Stahlsplitter sirrten durchs
Bambusröhricht.
Die Druckwelle schlug wie ein schwerer, plumper
Keil ins Erdloch. Emo verkrampfte die Arme um sei-
Acht Geschichten

Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-85787-497-0
Seiten 182
Erschienen 12. September 2019
€ 26.00 / Fr. 29.80

Seine Erzählungen sind selbstredend meisterhaft, elegant, lehrreich und unterhaltend.
— Süddeutsche Zeitung

Auf den ersten Blick scheint die Welt in Gerold Späths Geschichten in Ordnung, doch hinter den idyllischen Fassaden öffnen sich bald die Abgründe, treten Tragödien offen zutage. Kunstvoll legt der Autor die Fallstricke aus. Ob in Venedig, auf dem Zürichsee, in Alaska oder in Mexiko – die Lebensläufe und Familiengeschichten driften ab ins Groteske und führen oftmals ins Verderben.
Gerold Späth entfaltet einen Erzählkosmos, der Leser und Leserinnen unweigerlich in seinen Bann zieht. Der Band versammelt eine Auswahl alter und neuer Geschichten dieses sprachgewaltigen Erzählers.

Pressestimmen

Absolut sensationell.
— Klaus Hübner, literarischer monat
Späths Virtuosität erinnert an die Erzählökonomie der grossen Realisten. Jedes Wort sitzt, die sparsam platzierten Helvetismen ebenso wie auch die Wörter, die bisweilen fehlen – noch die elliptischen Gesten dieser Prosa setzen herrliche Akzente.
— Süddeutsche Zeitung
In seinen acht Geschichten lassen sich einige Lebensthemen und die imposante Erzählkunst dieses grossartigen Schweizer Schriftstellers neu bewundern.
— Julian Schütt, Schweizer Radio