LENOS
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Lenos Verlag
Andrea Gerster
Alex und Nelli
Roman
Die Autorin dankt der Landis & Gyr Stiftung r die Gelegenheit,
einige Monate in Berlin arbeiten und leben zu können.
Die Autorin und der Verlag danken der Kulturstiftung des Kantons
Thurgau für die grosszügige Unterstützung.
Erste Auflage 2017
Copyright © 2017 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Nonda Coutsicos, Zürich
Umschlagillustration: Keystone / Nicola Schaller
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 483 3
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Der Lenos Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Struk-
turbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
Meinen Eltern
wenn einer ein schicksal hat,
dann ist es ein mann. wenn einer
ein schicksal bekommt, dann ist
es eine frau.
Elfriede Jelinek, Die Liebhaberinnen
1. Teil
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Ein Unfall mit Todesfolge
Der Jaguar schnurrte. Steiner wartete auf Grün.
Am liebsten jetzt die Handschuhe, dachte er, be-
liess es jedoch beim sehnsüchtigen Blick zum Hand-
schuhfach, wo das schöne Ziegenleder wartete. Die
paar Kilometer, Steiner, ausserdem Stadtverkehr die
Handschuhe doch nur bei hohem Tempo, wenn wie
fliegend unterwegs. Beim Anblick der Instrumente
und der behandschuhten Hände erfasste ihn jedes Mal
von Kopf bis Fuss ein Glücksgefühl. Alexander Steiner
hatte hässliche Hände, aber mit den Handschuhen wa-
ren sie schön.
Wolfgang hatte ihn nie Alexander genannt, son-
dern konsequent Steiner.
Darf ich vorstellen: Steiner, mein Partner, hatte er
jeweils gesagt.
Bis Steiner herausfand, dass Wolfgang, sein Partner
bei Architektur Steiner & Berger, Männer bevorzugte.
Daraufhin Steiner zu Wolfgang: Es ist besser, du
stellst mich in Zukunft als deinen Geschäftspartner
vor.
Und Wolfgang zu Steiner: Am besten, du stellst
dich in Zukunft gleich selbst vor.
Und dabei keine Spur von Beleidigtsein. Da war
sich Steiner ganz sicher, auch im Nachhinein.
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Sofort spülten Wolfgangs letzte Worte durch sei-
nen Kopf und wurden von einem Pfeifton in den Oh-
ren abgest: Mach deinen Scheiss doch allein.
Auch Nelli tauchte in seiner Erinnerung auf, ein-
dringlich wie immer: Du musst dich damit ausein-
andersetzen, Alexander. Keinesfalls darfst du das ver-
drängen.
»Darf ich vorstellen: meine ehemalige Lebenspart-
nerin, Nelli Vetterli, Psychologische Beratung und
Coaching. Im Kosmetiksalon kennengelernt. Halle-
luja, dieser Kennenlernort stört empfindlich das Ken-
nenlernbild!«
Er Brusthaare entfernen, sie Bikinizone. Dann hiess
es Überbuchung, ein Fehler in der Administration.
Überbucht wie die Air Berlin. Sie lachten, und er
überliess ihr den Termin. Dann tauschten sie ihre Vi-
sitenkarten. Er machte dabei eine leichte Verbeugung
und überreichte seine mit beiden Händen, worauf sie
jauchzte und rief: Wie in Japan!
»Natürlich hat sie sich dann zuerst gemeldet.« Stei-
ner hrte oft Selbstgespräche, wenn er mit sich allein
war. Und jetzt: »Den Jaguar trifft keine Schuld.« Das
sagte er nicht zum ersten Mal, und der Satz stand in
keinerlei Zusammenhang mit Nelli Vetterli, sondern
mit einer anderen Frau.
Ein Jaguar ist mehr als eine perfekte Maschine, er
ist genauso lebendig wie die Menschen, die ihn fahren.
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Steiner liebte sein Schnurren beim Warten, aber auch
den fauchenden Schub, wenn er aufs Gaspedal trat.
Raubtier, 500 PS, Acht-Gang-Automatik.
Erst spät, anlässlich ihrer letzten Aussprache, er-
fuhr Nelli, warum sie auf dem Namensschild seiner
Wohnung fehlte, obwohl sie bei ihm lebte.
»Was r ein Name! Vetterli geht gar nicht.« Stei-
ner drückte das Kreuz in den geschmeidigen Sitz.
Vier Jahre lang hatten sie Aussprachen geführt, nie
hatten sie Auseinandersetzungen gehabt. Beziehungs-
arbeit nannte sie das. Die Panikattacken suchten Nelli
für gehnlich erst in der Nacht heim, unabhängig
von eventuell vorangegangenen Aussprachen.
»Damit hättest du dich auseinandersetzen sollen,
Nelli.« Die lange Rotphase liess Steiner ungeduldig
werden.
Dann das Beziehungsaus.
Dein Streben, einem Bild zu entsprechen, das du
dir von dir selbst machst, wird dich zerstören, hatte
Nelli abschliessend ruhig gesagt.
»Ein letztes Aufbäumen und noch ein bisschen
Voodoo, Frau Vetterli.« Steiner fuhr sich mit der rech-
ten Hand über das Kinn. Ein Blick in den Rückspie-
gel bestätigte ihm, dass an diesem Morgen eine Rasur
angebracht gewesen wäre. Er tippte aufs Gaspedal,
der Jaguar jaulte beleidigt auf, und die Lenkerin des
Kleinwagens auf der Nebenspur musterte ihn mit
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hochgezogenen Augenbrauen. Das auf der ckbank
festgezurrte Kind plärrte. Steiner grinste.
Natürlich macht man sich ein Bild von sich. Auch
Nellis Beratungen zielten im Grunde genau darauf ab.
Nur dass sie das Bild von ihm machte und er dann
versuchen sollte, diesem zu entsprechen. Sie erklärte
Alexander, dass bei ihm Selbst- und Fremdbild zu weit
auseinanderklafften. Nach Wolfgangs Abgang wurden
Selbst- und Fremdbild zum Dauerthema zwischen ih-
nen. Sie sagte unter anderem: Du opferst deine Identi-
t, Alexander.
Er sammelte ihre Zitate und notierte sie auf ein
Blatt Papier. Wenn es voll sei, werde er sich von ihr
trennen, so sein Plan. Es war dann auch ganz leicht.
Eines Tages zeigte er Nelli das Blatt und erklärte, was
es damit auf sich habe. Danach sagte sie jenen ab-
schliessenden Satz, der aber mangels Platz nicht mehr
notiert werden konnte. Am Abend war sie weg. Spur-
los verschwunden. Sie hatte nichts zurückgelassen, was
auf ihre vier gemeinsamen Jahre tte verweisen n-
nen. Er hatte über ihre Gründlichkeit gestaunt. Die
Endltigkeit hatte ihn entspannt. Nun vermisste er
sie zum ersten Mal, denn sie hätte ihm Mut gemacht.
Genau, er fühlte sich mutlos.
Endlich wechselte die Ampel auf Grün. Als Stei-
ner Gas gab, schoss noch ein Taxi von rechts über
die Kreuzung. Ehe er abbremsen konnte, tat dies der
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Jaguar von selbst. Adaptive Geschwindigkeitsrege-
lung. »Warum hast du bei Margarete Palladio nicht
genauso reagiert?« Er hörte sich vorwurfsvoll an. Bis-
her hatte er den Jaguar immer nur gelobt, geliebt,
bewundert. Wieder die Lust, die Handschuhe aus
dem Fach zu holen. Hatte er sie damals getragen und
damit die Frau angefasst? War womöglich noch Blut
am Ziegenleder? Der Jaguar hatte eine Delle auf der
Motorhaube gehabt. Ihn verletzt zu sehen hatte weh
getan.
Steiner drehte die Musik ab. Hatte ihn vor dem
Unfall vielleicht das ausgeklügelte Klangsystem ab-
gelenkt, und er hatte mitgesungen und sich dabei im
Rückspiegel betrachtet?
Der Stadtbus versuchte von der Haltestelle in den
Verkehr einzufädeln, Steiner verlangsamte. Sein Fahr-
stil war nicht mehr derselbe, er hätte genauso gut in
einem Golf sitzen können.
Die Motorhaube des Jaguars war bereits repariert
und Wolfgang seit zwei Jahren tot.
Hinter dem linken Ohr hatte er ein grosses Mut-
termal gehabt, Steiner war das vorher nie aufgefallen.
Wolfgang hatte auf dem Bauch gelegen, das rechte
Bein angezogen, die Arme angewinkelt, als ob er weg-
robben wollte. Steiner hatte auf das Muttermal gestarrt
und sich gefragt, ob es noch mehr gab, was er über sei-
nen Geschäftspartner nicht wusste.

Andrea Gerster
Alex und Nelli

Roman

Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-85787-483-3
Seiten 183
Erschienen 18. September 2017
€ 24.00 / Fr. 28.00

Ein tragikomischer Roman über Kapriolen der Liebe und unerwartete Spielarten des Glücks.

Alexander Steiner ist erfolgreich und liebt seinen Jaguar mehr als die Menschen. Die Abwärtsspirale beginnt mit dem Suizid seines Geschäftspartners: Er verliert nach und nach alles, auch seine Freundin Nelli, und landet auf der Strasse. Nun sammelt er Flaschen und übernachtet auf Spielplätzen. Aus Alexander Steiner ist Ale geworden, und dieser will von seinem früheren Leben nichts mehr wissen. Doch zwei Jahre später macht Nelli sich auf die Suche nach dem Mann, den sie trotzdem noch liebt.

Ein tragikomischer Roman über wankende Selbstbilder, über Kapriolen der Liebe und unerwartete Spielarten des Glücks.

Pressestimmen

Alex und Nelli ist eines dieser raren Bücher, die eigentlich fast allen gefallen könnten und die man bedenkenlos verschenken kann.
— Lesen
Eine vergnügliche Lektüre.
— Rolf Hürzeler, kulturtipp
Packend entwirft Andrea Gerster diese Geschichte um die Identitätsverstörung eines skrupellosen Egozentrikers.
— Bernadette Conrad, St. Galler Tagblatt
Lesenswert, unterhaltsam, herausfordernd und gut geschrieben (…) Ein Roman, der den Nerv der Zeit trifft. Ein Roman über die Einsamkeit und Zerrissenheit des Menschen.
— Gallus Frei-Tomic, Kulturmagazin Saiten