LENOS
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LENOS POCKET 122
www.lenos.ch
Adler, Mufflon & Co.
Tiergeschichten aus der arabischen Welt
Mit einem Vorwort
von Hartmut Fähndrich
Lenos Verlag
Zur Erleichterung der Aussprache arabischer Namen wurden in der Übersetzung
betonte lange Silben mit einem Zirkumflex (
^
) versehen.
LENOS POCKET 122
Erste Auflage 2009
Copyright © 2009 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 722 3
Inhalt
Vorwort von Hartmut Fähndrich 7
Ghassan Kanafani: Sechs Adler und ein kleiner Junge 13
Ibrahim al-Koni: Die Zugvögel 23
Jussuf Idris: Der Mann und die Ameise 31
Sabri Mussa: Der Wolfshund 49
Tajjib Salich: Ritt zum Donnerstagsmarkt 55
Muhammad al-Machsangi: Auf heissem Dach 61
Abdalrachman Munif: Im Garten des Agas 63
Abdalhakim Kassem: Der Backtag 69
Taufik al-Hakim: Hakîms Esel 73
Ibrahim al-Koni: Ein Satan namens Mensch 79
Sakarija Tamer: Der letzte Hafen 85
Emil Habibi: Dort, auf meinem Felsen 91
Ghassan Kanafani: Die Eule in einem fernen Zimmer 99
Muhammad Safsaf: Die Ratten und die Vögel 109
Iman Humaidan-Junis: Die Seidenraupensaison 115
Sabri Mussa: Merry Christmas 123
Hassan Nasr: Der Mann, sein Sohn und sein Esel 129
Salwa Bakr: Eine kleine weisse Maus 133
Ibtihal Salim: Die Möwen 143
Muhammad al-Machsangi: Eine blaue Fliege 147
Salim Barakat: Hahnenkampf 149
Emily Nasrallah: Septembervögel 153
Jussuf Idris: Der Vogel und der Draht 157
Muhammad Mustagab: Die Füchse 161
Dschabra Ibrahim Dschabra: Der griechische Doktor 165
Die Autorinnen und Autoren 175
Die Übersetzerinnen und Übersetzer 183
7
Vorwort
»Niemand weiss, warum Tiere tun, was sie tun«, sagt der
alte Bauer in Ghassan Kanafanis Erzählung von den sechs
Adlern. In Abdalrachman Munifs Erzählung über die Ra-
ben und die Hunde lautet die Volksmeinung: »Bei diesen
Tieren kann man nie wissen, wann sie kommen und gehen
und was für sie Spiel oder Ernst ist.« Und noch deutlicher
ruft es bei Ibrahim al-Koni die Schar der Seher den Vögeln
zu: »… wir wissen, dass ihr wir seid und dass wir ihr sind,
auch wenn wir das niemandem erzählen.«
Menschen sehen sich in Tieren, wollen ihr Verhalten in
Tieren wiedererkennen, wollen sich selbst mit Tieren iden-
tisch sehen. Deshalb werden Tiere benutzt, um Menschliches,
Allzumenschliches auszudrücken. Tiere sind als Projektions-
flächen menschlichen Tuns und Handelns, als Gefährten und
Spiegelbild des Homo sapiens wohl überall zu finden.
Auch in der arabischen Welt reicht die Geschichte mit
den Tieren und reichen die Tiergeschichten weit zurück. Es
gibt dort eine Erzähltradition, in die Kinder von ihrer Fa-
milie und in der Schule eingeführt werden. Und einige der
dortigen Quellen sprudelten auch für die europäi sche Tier-
literatur oder sie geren einfach zur Kultur geschichte
des Mittelmeerraums.
Die Schöpfungsgeschichte, wie sie das Alte Testament
enthält, ist im wesentlichen identisch oder doch sehr ähn-
lich den Schöpfungsvorstellungen, wie sie im Koran zu fin-
den sind. Und besonders Noah, der mythische, von Gott
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eingesetzte Prototyp des Schöpfungsretters, der mit seiner
Arche die kreatürliche Welt gegen die Sintflut bewahrt hat,
ist in beiden Traditionen zu finden, der alttestamentlichen
und der koranischen. In der islamischen gibt es ausgiebige
Überlegungen zu diesem Vorgang.
Wie alt Noah war, als er die Arche bestieg oder auch
nur als er von Gott als Prophet zu den Gottvergessenen ge-
schickt wurde, ist unklar. War er 50 Jahre alt? Oder 350
oder 480? Alle diese Altersangaben werden in den klassi-
schen Texten vorgeschlagen. Auch unklar ist, wie lange er
zuvor seine schliesslich vergeblichen Versuche unternom-
men hatte, die Menschheit auf den rechten Weg zurückzu-
holen. Waren es 950 oder doch nur 120 Jahre? Beide Anga-
ben sind überliefert.
Sicher verbürgt ist, dass Gott diesem seinem ersten Pro-
pheten, dem Vater der zweiten Menschheit, als alles Predi-
gen bei den widersetzlichen Menschen nichts fruchtete, auf-
trug, einen Baum zu pflanzen und ihn vierzig Jahre später
zu fällen, um daraus die Arche zu zimmern. Manche wissen,
dass die Arbeit daran 400 Jahre dauerte. Schliesslich stand
»die Arche vor unseren Augen«, wie es im Koran heisst,
über deren Ausmasse die Angaben ebenfalls variieren.
Auch über die Reihenfolge des Einmarsches der Tiere
in ihr Rettungsboot hat man sich Gedanken gemacht. Das
erste Tier, das die Arche betrat, war die Ameise, während
den Abschluss der Prozession der Esel bildete, an dessen
Schwanz hängend auch der Satan noch mit hineinschlüpfte,
weswegen man ihn halt wieder nicht los war.
Auch darüber, wie lange die Flut währte, herrscht keine
Einigkeit. Doch die Frage hat die Überlieferer bescftigt.
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Waren es sechs Monate und zehn Nächte oder vierzig Tage
und ebenso viele Nächte? Gingen sie am 10. Radschab an
Bord und verliessen die Arche am 10. Muharram
*
? Jeden-
falls setzte man am Ende auf den Berg al-Dschûdi auf, dessen
Fuss sich in der Region Mossul (im heutigen Irak) befindet.
Die Geschichte um Noah hat also schon früh und viel-
fältig die Phantasie der Menschen in Bewegung gesetzt.
Zahlreiche Geschichten waren im Umlauf. So sind offen-
bar einige Tiere Nachzügler der Schöpfung. Das heisst, sie
schulden ihre Existenz erst den Zuständen auf jenem Le-
bensschiff, der Arche. Die Katze zum Beispiel sei ein sol-
ches Resultat. Wegen der Mäuseplage auf der Arche befahl
Noah, auf Gottes Geheiss hin, dem Löwen zu niesen, und
schwups war ein Katzenpaar geniest, das sich der Mäuse-
plage annahm. Ähnlich ging es mit der Entstehung der
Schweine, sie sind Resultat der Unratsituation auf dem Na-
chen. Als diese mlich überhandnahm, hiess Noah, auf
Gottes Geheiss hin, den Elefanten zu kacken, und schwups
war ein Schweinepaar gestuhlt, das sich über den Unrat her-
machte. Und schon der Koran berichtet, dass Gott sogar
gewisse unbotmässige Menschen zu Affen und Schweinen
gemacht habe (Suren 5,60; 2,65; 7,166), was natürlich bei-
den Tieren nicht gerade ein hohes Renommee verschaffte.
Weniger bekannt als die Noahgeschichte ist bei uns die
früharabische Poesie, jene Poesie aus dem 7. bis 12. Jahr-
hundert, die zahlreiche Tierdarstellungen kennt: Jagdhunde
* Radschab und Muharram sind Monate des islamischen Jahres. Der
10. Muharram ist der Aschura-Tag, an dem die Schiiten des Todes von
Hussain, dem Enkel Muhammads, gedenken, der im Jahre 680 in der
Schlacht von Kerbela (im heutigen Irak) fiel.
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und Brieftauben, Rennpferde und Beizvögel, Kampfhähne
und Reitkamele all das waren Tiere, die mit grosser Freude
am Detail und mit hoher sprachlicher Finesse dargestellt
wurden. Und solche Gedichte sind noch immer Gegenstand
des schulischen Arabischunterrichts.
Auch in anderen Gattungen der frühen arabischen Lite-
ratur finden sich Tiere: in der Unterhaltungs- und Beleh-
rungsliteratur, in Reise- und Geographie- und natürlich
Zoologiebüchern. Dabei mischt sich nicht selten das Reali-
stische mit dem Phantastischen.
Dann gab es Kalîla und Dimna, jene Fabelsammlung, mit
denen die Fürsten zur weisen Herrschaft geführt werden
und die auch heute noch in arabischen Buchläden in zahl-
reichen Ausgaben greifbar ist. Dieses beliebte Buch geht
auf eine auf Sanskrit verfasste Sammlung von Lehrgeschich-
ten zurück, die von Ibn al-Mukaffa (ca. 724757)
*
aus einer
mittelpersischen Version ins Arabische übersetzt und deren
hebräische Version in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhun-
derts ins Lateinische übertragen wurde und danach und
von dort in zahlreiche westeuropäische Sprachen. Deshalb
ist es auch nicht überraschend, in der berühmten Samm-
lung von Jean de La Fontaine (16211695) zahlreiche Fabeln
aus diesem Werk wiederzufinden.
Kalila und Dimna sind zwei Schakale, die im ersten Ka-
pitel die Hauptrolle spielen. Als Wesire, das heisst Minister
des Königs we, spinnen sie allerhand Intrigen. In späteren
* Diese Version ist auch ins Deutsche übertragen: Abdallah Ibn al-
Muqaffa, Kalila und Dimna. Die Fabeln des Bidpai. Übersetzung aus
dem Arabischen von Philipp Wolff (1837). Nachwort von J. Christoph
Bürgel. Zürich: Manesse 1995.
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Versionen des Werkes werden, im allgemeinen durch Tier-
fabeln, Maximen der Lebensklugheit und »Lebenshilfe« für
den guten muslimischen Herrscher erteilt. Die zahlreichen
Erweiterungen und Abänderungen haben aus Kalîla und
Dimna
*
schliesslich eine Art Volksbuch gemacht.
In die Reihe der Quellen von Tiergeschichten geren
selbstverständlich auch die Erzählungen aus den Tausend und-
ein Nächten. Diese enthalten, in der Form, in der sie sich
seit dem 18. Jahrhundert weltweit eingebürgert haben
**
,
alle schon genannten Arten von Tiergeschichten: Da gibt es
Reiseberichte, in denen sich Faktisches und Phantastisches
mischen; da gibt es Fabeln, die der Erbauung oder der Be-
lehrung dienen; da gibt es Gedichte, die Tiere zum Gegen-
stand haben; und da gibt es vielfach das Märchenmotiv von
der Verwandlung eines Menschen in ein Tier.
Nichts zeigt unmittelbarer die enge Verbindung von
Mensch und Tier, im Guten wie im Schlechten, und das
wird auch noch in heutigen Verwendungen von Tiermoti-
ven in der arabischen Literatur offenbar, auch wenn sich vie-
lerorts, in der arabischen Welt wie anderswo, das Verhältnis
zwischen Mensch und Tier gewandelt hat.
Hartmut Fähndrich
* Eine neuere deutsche Übersetzung ist unter dem Titel Löwe und Scha-
kal (aus dem Arabischen übertragen und bearbeitet von Gernot Rotter)
1980 im Erdmann Verlag, Tübingen und Basel, erschienen.
** Deren Standardübersetzung ist die 1953 im Insel Verlag, Frankfurt
am Main, erschienene und mehrfach nachgedruckte: Die Erzählungen aus
den Tausendundein Nächten. Vollständige deutsche Ausgabe in zwölf Bän-
den zum ersten Mal nach dem arabischen Urtext der Calcuttaer Aus-
gabe aus dem Jahre 1839 übertragen von Enno Littmann.
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Ghassan Kanafani
Sechs Adler und ein kleiner Junge
Einmal arbeitete ich als Musiklehrer auf dem Land. Damals
musste ein Musiklehrer nichts von Musik verstehen. Seine
ganze Aufgabe bestand darin, den Kindern einige Lieder
vorzusingen und dann, wenn alle zusammen loslegten, den
Takt zu schlagen.
An sich war meine Arbeit überhaupt nicht anstrengend,
nur dass ich, um in meinem Fach gegend Stunden zu
unterrichten, zwischen zwei Dörfern hin- und herfahren
musste. Und während ich mir in den ersten Monaten als
etwas Besonderes vorkam, verschwand dieses Gefühl ganz
und gar, als die Fahrerei in dem alten Bus auf holpriger
Strasse und mit all den Bauern langsam unerträglich wurde.
Ausserdem bekam ich allmählich den Eindruck, meine Ar-
beit dort sei nichts anderes als ein langsames Begräbnis all
dessen, wovon ich beim Verlassen der Sekundarschule ge-
träumt hatte.
Die Fahrerei mit dem Bus war wirklich anstrengend.
Mitunter versuchte ich, während der Fahrt zu schlafen.
Doch hinderte mich das heftige Rütteln des Busses daran.
Die wenigen Male, die ich trotz allem drauf und dran war,
einzuschlafen, holte mich ein Korb, eine Melone oder irgend
etwas anderes, mit dem mich mein Sitznachbar in die Seite
stiess, in die Wirklichkeit zurück; oder ein heftiger Schlag
schreckte mich auf, mit dem mein Nebenmann mich er-
suchte, einen Disput zwischen ihm und seinem Kollegen zu
schlichten.
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All das ertrug ich, wenn auch mit Widerwillen, und
zwar aus einem Grund, den wohl nur der verstehen kann,
der selbst einmal als Lehrer in einem Dorf gearbeitet hat.
Der Lehrer ist dort ein heiliges Wesen, und wir hätten nur
ungern diese Heiligkeit durch eine vorübergehende Laune
oder durch ein grobes Wort zersrt. Deshalb nickten wir
verständnisvoll, wenn wir unfreiwillig an einem Gespräch
teilhatten, oder wir lächelten freundlich, wenn uns ein
Bauer bat, ihm zur Hand zu gehen.
All das ertrug ich, wenn auch mit Widerwillen. Doch
wirklich aus der Fassung bringen konnte mich, wenn ei-
ner der Bauern auf der Fahrt in einem alten, auf holpriger
Bergstrasse dahinschaukelnden Bus während der Augen-
blicke, die mir an sich zum Ausruhen zwischen zwei Unter-
richtsstunden dienen sollten, unbedingt ein Gespräch mit
mir führen wollte.
»Hast du diesen Felsen dort bemerkt?« fragte mich ein
alter Bauer eines Tages und zeigte dabei durch das Fen-
ster auf einen spitzen Felsen, der auf einem kleinen Hügel
stand.
»Ja, ich sehe ihn jede Woche dreimal.«
Er fragte weiter, den Finger noch immer ausgestreckt.
»Weisst du, was es mit ihm für eine Bewandtnis hat?«
»Sogar mit dem Felsen hat es eine Bewandtnis?« fragte
ich erstaunt, obwohl ich wusste, dass es auf dem Dorf mit
allem eine Bewandtnis hat. Aber ich hatte nicht gewusst,
dass es auch mit diesem kleinen Felsen an einer solch abge-
legenen, halbvergessenen Strasse eine Bewandtnis hat. Doch
war meine Frage in deutlich mürrischem Ton gestellt. Ich
schlug meine Zeitung auf und las darin herum.
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»Das ist eine lange Geschichte.«
Ich gab vor, nicht zuzuren, und las weiter, in der
Gewiss heit, dass der alte Bauer nicht mich ansah, sondern
auf den Felsen starrte, der in einiger Entfernung langsam
vorbeizog.
»Früher bin ich jeweils alle zwei Tage hier vorbeigefah-
ren, immer hier vorbei. Und immer habe ich einen grauen
Adler gesehen, der wie ausgestopft auf dem Felsen sass. Er
ist am Morgen gekommen, hat über dem Felsen mit seinen
grossen Schwingen einige Kreise gezogen und sich dann
langsam darauf niedergelassen. Er ist dageblieben bis zum
Abend. Dann ist er zurück in die Berge geflogen.« Ich fal-
tete die Zeitung zusammen und steckte sie in die Tasche.
Dann schaute ich den alten Mann an. Es hörte sich an, als
erzählte er von seinem Sohn.
»Sieben Monate lang kam er, Tag für Tag.«
»Und weisst du, warum?«
Plötzlich sah er mich an, als erblickte er mich zum er-
stenmal. Einen Augenblick später drehte er sich wieder zum
Fenster und antwortete auf meine Frage: »Niemand weiss,
warum Tiere tun, was sie tun. Aber dieser Adler ist auf dem
Felsen dort geboren. Seine Mutter war schon alt und konnte
zum Brüten nicht mehr ins Gebirge fliegen. Also tat sie es
hier. Als dann die Jungen geschlüpft waren, starb die Alte
und blieb auf jenem Felsen liegen.«
Er drehte sich wieder zu mir und betrachtete mich: »Als
der Adler alt geworden war und spürte, dass seine Zeit ge-
kommen war, kam er täglich und setzte sich dorthin, wo
seine Mutter gestorben war … und wartete.«
»Und starb er?«
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»Ja, eines Tages kam ich vorbei, und er war nicht mehr
da.«
Ich schlug wieder die Zeitung auf und begann zu lesen.
Doch der alte Mann war mit seiner Geschichte noch nicht
fertig. »Adler sind treue Tiere …«
Ich nickte zustimmend.
Der alte Mann sah mich an; sein Blick unterstrich seine
Aussage.
Als er nicht aufrte, mich anzustarren, sah ich mich
gezwungen zu wiederholen: »Ja, Adler sind treue Tiere.«
Auf dem ckweg sass neben mir ein junger Bauer mit
einem grossen Sack Hirse. Zu Beginn der Fahrt wechselten
wir einige kurze Worte. Als wir dann an dem Felsen vor-
beifuhren, stiess er mich an die Schulter und wies durch das
Fenster. Er wollte gerade anfangen, als ich ihn unterbrach:
»Gott erbarme sich des Adlers! Zweifellos kennst du die
Geschichte. Er war ja wirklich treu …«
Er liess seine Hand auf sein Bein sinken und nickte be-
drückt: »Ja, die Liebe. An allem ist die Liebe schuld.«
»Welche Liebe?«
»Sie hat ihn sicher geliebt.«
»We r?«
Erstaunt schaute er mich an; dann rief er: »Das Adler-
weibchen, das gestorben ist! Es scheint, du kennst die Ge-
schichte nicht.«
Er richtete sich auf und drehte sich, so dass wir uns ge-
gebersassen; der schwere Sack mit Hirse kam auf mein
Knie zu liegen.
»Jeden Morgen ist sie gekommen. Erst ist sie über dem
Felsen geschwebt, dann hat sie sich darauf niedergelassen.
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Bis Sonnenuntergang hat sie dagesessen, und dann, wenn es
dämmerte, ist sie in die Berge zurückgeflogen.«
Ich seufzte und fragte ungeduldig: »Aber warum?«
»Das ist eine lange Geschichte. Es heisst, zwei Adler-
männchen hätten sich einmal auf diesem Felsen um sie
gestritten. Ihr Gekreisch ist weithin zu ren gewesen. Sie
haben aufeinander eingehackt, bis sie bluteten. Schliesslich
hat einer von ihnen den anderen umgebracht. Aber das
Adlerweibchen hat den Sieger nicht geliebt, und so ist der
Arme nochmals in einen Streit geraten, diesmal mit ihr, in
dem er aber den kürzeren zog – er ist seinem Nebenbuhler
gefolgt …«
»Und dann?«
Er deutete mit dem Daumen nach hinten, wo der Felsen
vorbeizog, und nickte kummervoll: »Bis zu ihrem Tod hat
sie auf dem Felsen die beiden beweint.«
»Weisst du auch, woran sie starb?«
»Wahrscheinlich hat sie nichts mehr gegessen.«
Er setzte sich wieder anders hin und schaute durch das
Fenster auf die kahlen Hügel hinaus. Dann flüsterte er:
»Adlerweibchen sind grausam …«
Eine Woche später, ich hatte die beiden Geschichten
schon fast vergessen, rief sie mir eine Frau mittleren Alters,
die neben mir sass, ins Gedächtnis zurück: »Er an ihrer
Stelle …, ob er sich auch so verhalten hätte?« Sie zeigte auf
den Felsen und schaute mich an, als suchte sie bei mir eine
Bestätigung.
»Wer weiss?« sagte ich. »Möglicherweise hätte er sich
auch so verhalten. Schliesslich ist er doch für sie gestor-
ben?«

Diverse
Adler, Mufflon & Co.

Tiergeschichten aus der arabischen Welt

Aus dem Arabischen von Edward Badeen, Petra Becker, Nuha Forst, Hartmut Fähndrich, Regina Karachouli, Angelika Rahmer, Burgi Roos Khalil, Ulrike Stehli-Werbeck, Kristina Stock und Veronika Theis


Lenos Pocket 122
Paperback
ISBN 978-3-85787-722-3
Seiten 184
Erschienen Februar 2009
€ 9.50 / Fr. 16.00

Ausgaben
Paperback (2009)

»Niemand weiss, warum Tiere tun, was sie tun«, sagt der alte Bauer in Ghassan Kanafanis Erzählung von den sechs Adlern. In Abdalrachman Munifs Erzählung über die Raben und die Hunde lautet die Volksmeinung: »Bei diesen Tieren kann man nie wissen, wann sie kommen und gehen und was für sie Spiel oder Ernst ist.« Und noch deutlicher ruft es bei Ibrahim al-Koni die Schar der Seher den Vögeln zu: »Wir wissen, dass ihr wir seid und dass wir ihr sind, auch wenn wir das niemandem erzählen.« Menschen sehen sich in Tieren, wollen ihr Verhalten in Tieren wiedererkennen, sich selbst im Wesen der Tiere spiegeln. Deshalb werden Tiere benutzt, um Menschliches, Allzumenschliches auszudrücken. Tiere sind als Projektionsflächen menschlichen Tuns und Handelns, als Gefährten und Spiegelbild des Homo sapiens wohl überall zu finden. Auch in der arabischen Welt reicht die Geschichte mit den Tieren und reichen die Tiergeschichten weit zurück. Es gibt dort eine Erzähltradition, in die Kinder von ihrer Familie und in der Schule eingeführt werden. Und einige der dortigen Quellen hatten auch Einfluss auf die europäische Tierliteratur – oder sie gehören einfach zur Kulturgeschichte des Mittelmeerraums. Der vorliegende Band versammelt fünfundzwanzig Tiergeschichten namhafter arabischer Autorinnen und Autoren von Marokko bis Syrien.