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Lenos Verlag
Viola Rohner
42 Grad
Erzählungen
Der Lenos Verlag wird vom Bundesamt r Kultur mit einem Struk-
turbeitrag für die Jahre 20162020 unterstützt.
Erste Auflage 2018
Copyright © 2018 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 488 8
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Die Autorin und der Verlag danken der Fachstelle Kultur Kanton Zü
-
rich für die grosszügige Unterstützung.
für Mathias
Inhalt
Das Meerschweinchen 9
Happy Halloween 63
Nach Moskau 81
Eine Autorin und ein Autor 113
Das Treffen 137
Fireballs 165
Eden View 177
Eine Kette von Bildern 199
42 Grad 211
9
Das Meerschweinchen
I
Ameisen krabbelten über seinen aufgedunsenen r
-
per. Durch sein braunes Fell schimmerte weiss die ge-
spannte Haut. Es lag in der hintersten Ecke des Stalles,
dort wo es sonst schlief. Es lag auf der Seite, den Kopf
gegen die Plastikschale gedrückt, die eigentlich dazu
diente, seinen Urin und Kot aufzufangen. Zwei Pföt
-
chen zeigten verkrümmt in die Luft, auf seinem Auge
sass eine Fliege, und aus dem Mund ragten seine Nage-
zähne wie eine weit geöffnete Zange, die klemmte und
sich nicht mehr zumachen liess.
Irma schloss die Stalltür. Das Meerschweinchen tat
ihr leid. Sie hatte nicht gewollt, dass es starb. Jeden
Tag hatte sie ihm Futter ins Gehege gelegt und seinen
Stall einmal pro Woche gesäubert. Sie hatte nicht je
-
des Mal nachgeschaut, ob es noch lebte, und sie hatte
auch nicht mit ihm gesprochen wie Sarah, aber sie
hatte es gewissenhaft versorgt, ihm im Winter Mohr
-
rüben und Kohlblätter gegeben und im Sommer Lö-
10
wenzahn, der überall im Garten spross. All das hatte
sie für das Meerschweinchen getan, das von Sarah bei
ihrem Auszug einfach zurückgelassen worden war.
Genauso selbstverständlich zurückgelassen wie ihr
Bett, ihr Tisch und ihr Stuhl. Wie ihre Poster. Wie der
Bleistifthalter, die Briefe und die Steinsammlung, die
noch heute genau so auf ihrem Tisch lag wie vor vier
Jahren, als sie in eine Wohngemeinschaft in der Stadt
gezogen war. Sarah war gegangen, als rde sie am
nächsten Tag gleich wieder zurückkehren. Als wäre sie
nur eben kurz in die Ferien gefahren. Aber sie hatte
seither keine einzige Nacht mehr zu Hause in ihrem
Bett verbracht. Nicht einmal an Weihnachten, wenn
sie für gehnlich länger blieb und mit Irma zusam
-
men zuerst das Bäumchen dekorierte und danach vom
kleinen Schmorbraten mit Rotkraut ass.
Daniel, der nach Abbruch seines Studiums ins Aus
-
land gezogen war, übernachtete ab und zu bei Irma. Er
kam r zwei, drei Tage, ging seinen Gescften nach
und wohnte bei ihr, weil es billiger war als im Hotel.
Daniel hatte, im Gegensatz zu Sarah, alles mitgenom
-
men, als er ausgezogen war. Sogar sein Bett und seinen
Tisch. Sein Zimmer war vollkommen leer seither. Und
wenn er nach Hause kam, musste er im Zimmer seiner
Schwester übernachten.
11
Irma hätte Daniels Zimmer für Gäste einrichten
nnen. Oder als Nähzimmer. Oder als ein Zimmer
zum Aquarellieren. Sie tte ihre kleine Staffelei, die
unten im Wohnzimmer stand, hinaufbringen und sich
einrichten nnen. Das Licht war gut, und es gab sogar
ein kleines Lavabo mit fliessendem Wasser, wo sie die
Pinsel hätte auswaschen nnen. Das Zimmer hätte
ein perfektes Atelier abgegeben. Aber Irma hatte sich
all das nicht einmal überlegt. Sie winkte sofort ab, als
Daniel den Vorschlag bei einem seiner Besuche machte.
Irma trat durch die Verandatür zurück ins Haus. Sie
schaute auf die Uhr. Es war schon fast sechs. Sie ging
in die che und riss eine Tütensuppe auf, schüttete
den Inhalt in eine Tasse und stellte den Wasserkessel
auf den Herd. Sie schnitt eine Scheibe Brot ab, legte sie
zusammen mit der Tasse auf das Tablett, setzte sich an
den chentisch und wartete, bis das Wasser kochte.
Während sie wartete, zählte sie die restlichen Tüten in
der Packung. Es waren nur noch vier. Sie stand auf und
schrieb das Wort Suppe auf das kleine Whiteboard,
das am Kühlschrank hing. Das Wort stand jetzt unter
Klopapier, Senf und Schnur.
Sie goss das heisse Wasser in die Tasse und ging
mit dem Tablett hinüber ins Wohnzimmer, schaltete
12
das Radio ein und setzte sich an den Esstisch. Der
Platz, der am nächsten zur Küche lag, war ihr Platz
von jeher.
Sie löffelte ihre Suppe und hörte die Nachrichten.
Nicht weil es sie interessierte, was in der Welt vor sich
ging. Die Rede war ja stets vom Gleichen: von Krisen
und politischen Wechseln. Sie rte die Nachrichten,
weil sie eine Stimme hören wollte. Eine Stimme, die
zu ihr sprach. Sonst störte sie die Stille in dem grossen
Haus nicht, nur beim Essen fehlte ihr ein Gegenüber.
Dann schaltete sie das Radio wieder aus, ging in
die Küche und wusch das Geschirr. Sie stellte die
Tasse zurück in den Schrank und legte den Löffel in
die Schublade. Sie reinigte die Spüle und den Herd. Sie
mochte es, wenn der Chromstahl glänzte. Sie putzte
auch den chenboden. Sie wischte ihn sogar mit ei
-
nem feuchten Lappen. Sie liebte den Geruch von Putz-
mittel in ihrer che. Auch im Bad. Sie reinigte es
jeden Tag, obwohl dies nicht nötig gewesen wäre. Sie
duschte nur kurz am Morgen, putzte die Zähne und
kämmte sich. Sie schminkte sich nicht und benutzte
keine Crèmes, die Flecke auf der Glasablagefläche hät
-
ten hinterlassen können.
Als sie fertig war, ging sie wieder ins Wohnzimmer
und setzte sich auf ihren Platz am Tisch und schaute
13
hinaus in den Garten. Wenn sie den Kopf ein wenig
drehte, konnte sie das Gehege des Meerschweinchens
sehen. Auch seinen Stall. Sie hätte merken müssen,
dass es seit längerem nicht draussen gewesen war. Sie
hätte nachsehen sollen, was los war. Vielleicht hätte sie
es noch zum Tierarzt bringen oder zumindest Sarah
anrufen nnen. Sie überlegte, ob sie sie jetzt anru
-
fen und vom Tod des Meerschweinchens unterrichten
sollte. Aber sie schob den Gedanken schnell beiseite.
Sie rief Sarah nie an. Es genügte, sie bei ihrem nächs
-
ten Anruf zu informieren. Es liess sich für das Tier
sowieso nichts mehr tun. Es war tot.
Sie hörte Musik. Bach. Die Fugen.
Die Musik war das Einzige, was von Irma ausge
-
wechselt worden war, nachdem ihr Mann sie verlassen
hatte. Sonst veränderte sie nichts im Haus. Nicht die
kleinste Kleinigkeit. Sie beliess alles, wie es war. Sie
durfte alles behalten. Das Haus, die Möbel, die Bilder,
sogar die Fotoalben. Ihr Mann wollte nichts mitneh
-
men. Ich will noch einmal von vorne beginnen, hatte
er zu ihr gesagt. Sie hatte über diesen Satz gelächelt
und ihn nicht ganz ernst genommen. Aber ihr Mann
setzte ihn tatsächlich um. Er heiratete wieder, eine
Frau, die fast dreissig Jahre jünger war als er, und vor
kurzem war er noch einmal Vater geworden.

Viola Rohner
42 Grad

Erzählungen

Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-85787-488-8
Seiten 228
Erschienen 1. September 2018
€ 22.00 / Fr. 29.80

In vibrierenden Bildern werden ihre Figuren lebendig, leuchten ganze Lebensgeschichten auf und lassen einen nicht mehr los.
— Christine Lötscher

Es sind Geschichten vom Ausbrechen aus dem gewohnten Leben und von Ereignissen, die alles ins Wanken bringen: Viola Rohner beherrscht es, auf wenigen Seiten ganze Schicksale zu kondensieren. Wunderbar gelassen, bisweilen lakonisch und stets durchdrungen von einer sanften Melancholie, erzählt sie von Frauen rund um den Globus, die an einem Wendepunkt in ihrem Leben stehen.

Zwei Geschwister begeben sich auf die Spuren ihrer verstorbenen Mutter. Eine Krankenschwester übernimmt im australischen Outback eine schwere Aufgabe. Eine junge Frau flieht vor ihrem Stiefvater und versucht im hohen Norden Schottlands zum ersten Mal, einem Mann zu vertrauen. Eine verlobte Schweizerin lässt sich auf einer Bahnfahrt in Russland auf ein erotisches Abenteuer ein ...

»Viola Rohner zeigt die Menschen in ihrer Einsamkeit und gleichzeitig als Teil eines Geflechts aus Beziehungen und Geschichten, aus denen es kein Entkommen gibt. In vibrierenden Bildern werden ihre Figuren lebendig, leuchten ganze Lebensgeschichten auf und lassen einen nicht mehr los.« Christine Lötscher

Pressestimmen

Manche Autoren brauchen viele Seiten, um eine Geschichte entstehen zu lassen, manche erzählen auf wenigen Seiten ungeheuer viel. Viola Rohner gehört zu Letzteren. Jede Erzählung im Band »42 Grad« entwirft ein eigenes kleines Universum.
— Martina Läubli, NZZ am Sonntag
Freunde der oft unterschätzten Gattung der Kurzgeschichte werden sich für die Erzählungen der Schweizer Autorin begeistern.
— ekz.bibliotheksservice
Rohners Sprache ist unaufgeregt, nahezu sachlich. Klar und scharf skizziert sie ihre Figuren und deren irgendwie verkacktes Leben, ihre Einsamkeit, Traurigkeit oder Abgestumpftheit. (…) Ihre grosse Stärke: Nichts ist vorhersehbar, man bleibt bei jeder Geschichte bis zum bitteren Ende gefesselt, auch wenn oder gerade weil nichts im eitel Sonnenschein endet. Wie im richtigen Leben ja auch.
— Susann Klossek, Literarischer Monat
Raffiniert kondensierte Lesekost … Viola Rohner entblättert gekonnt Schicksale, die in Erinnerung bleiben.
— Renate Schauer, literaturkritik.de
Der Erzählstil der 56-jährigen Autorin, die bisher Romane und Erzählbände veröffentlicht hat, ist so konzentriert, so ohne jeden Schnörkel, so fokussiert auf ihre Protagonisten und das Geschehen, in das sie sie wirft, dass sich jeder Gedanke von Luxus verbietet. Auch der Umfang der Geschichten ist karg, oft so überraschend kurz, dass man sich beim Lesen des letzten Wortes verwundert zurücklehnt und sich fragt, ob man etwas verpasst hätte. Verpasst wohl nicht, aber zu schnell gelesen. Rohner verlangt den aufmerksamen, genauen Leser, der Spass hat am beinahe detektivischen Erspüren der Details, die es in sich haben.
— Valerie Heintges, St. Galler Tagblatt
So lakonisch wie eindringlich.
— Susanna Petrin, Aargauer Zeitung