LENOS

Verlagsgeschichte

Von Litprint bis Babel – 50 Jahre Lenos Verlag

Der Anfang
November 1970: Tom Forrer, Heidi Sommerer, Ueli Kaufmann und Klaus Schuster gründen ihren eigenen Verlag. Literaturbegeistert, unternehmungslustig und ideenreich setzen sich die vier für die Publikation ihrer ersten Bücher ein, in der Freizeit, oft in Nachtarbeit und mit viel Enthusiasmus nebst ihren Brotjobs in anderen Verlagen.
Die Produktionsmittel selbst in die Hand zu nehmen, eigenen Überzeugungen und Ideen zu folgen, ein entsprechendes Programm zu gestalten und damit als unabhängiges Unternehmen im Buchmarkt präsent und wirkungsvoll zu sein waren Motivation und Anspruch zugleich.

Der Name
Die Idee zum Namen des Verlags lag in der hellenophilen Tradition anderer Schweizer Verlage begründet: Leros sollte er heissen, benannt nach der berüchtigten Gefangeneninsel im Ägäischen Meer, wo das griechische Obristenregime seine politischen Gegner internierte – ein klares Statement in den politisch bewegten siebziger Jahren. Doch als die ersten Geschäftspapiere aus der Druckerei kamen, die Überraschung: Man hatte dort das liederlich handgeschriebene r als n gelesen – ein Druckfehler! Aus Geldmangel musste auf eine Korrektur verzichtet werden. Und so wurde ein Ort, den es niemals gegeben hatte, in den folgenden Jahren zu einem besonderen Ort der Literatur: Lenos.

Die ersten Publikationen
Für die ersten Bücher der Basler Lenos-Presse wurden gezielt arrivierte Autoren angeschrieben mit der Bitte, Texte zur Verfügung zu stellen, was auch gelang: Werner Schmidlis Erzählung Margot’s Leiden (mit einem hübschen typographischen Fehler im Titel) wurde die erste Veröffentlichung. Mit diesem schmalen Buch wurde zugleich die Reihe »Litprint« geboren, deren rückwärts laufende Zählung mit Band 99 einsetzte – ein Kniff, um den Newcomerstatus des Verlags zu kaschieren. Weitere Titel von Autorinnen und Autoren aus der Schweiz und aus Deutschland kamen in den folgenden Jahren dazu, unter anderen von Heinrich Wiesner, Heinrich Henkel, Christoph Geiser, Kurt Marti, Gabriele Wohmann, Jörg Steiner und Adolf Muschg. Auf Honorare wurde einvernehmlich verzichtet, das Verlagsteam bezog keinen Lohn.
Alle Bücher und Werbemittel wurden eigenhändig hergestellt, von der Typographie bis zur Gestaltung, nur das Drucken wurde ausser Haus besorgt. Die durch den Buchverkauf generierten Einnahmen wurden in Produktionsmittel reinvestiert, Lenos spezialisierte sich auf Buchherstellung und übernahm ab 1973 auch Satzaufträge von anderen Verlagen.

Erste Erfolge
Die ersten Erfolge beflügelten das Verlagsteam, so dass das Programm 1973 mit der Reihe »Politprint« mit dem Schwerpunkt politisches Sachbuch erweitert werden konnte. 1975 wurde das belletristische Programm mit einer kleinen Reihe »Texte für die Theaterwerkstatt« ergänzt; Autoren wie Franz Hohler und Margrit Schriber waren dabei. Die Gruppe Olten, eine Vereinigung progressiver Autorinnen und Autoren, die aus dem traditionellen Schweizerischen Schriftsteller-Verein ausgetreten waren, wählte als Verlag für ihre zwei Textbände mit dem Titel Zwischensaison die Lenos-Presse.
Der Verlag war auch Sprungbrett für Autoren: Urs Faes, Hansjörg Schneider, Christoph Geiser u.a.m. konnten später ihre Karriere in anderen Häusern fortsetzen.
1974 erhielt der junge Verlag eine erste Auszeichnung: Wehrmännchens Abschied von Peter Lehner wurde im Wettbewerb »Die schönsten Schweizer Bücher des Jahres« prämiert.
Gleiches gelang 1976 René Regenass’ Textband Triumph ist eine Marke.

Neue Zusammenarbeit
1977 begann die langjährige, den Verlag besonders prägende Zusammenarbeit mit dem Philosophen Hans Saner. Im selben Jahr erschien die Neuausgabe des Romans Gilgamesch von Guido Bachmann – auch er fand bei Lenos sein literarisches Zuhause. Der erste Best- und Longseller mit rund 50000 verkauften Exemplaren erschien ebenfalls 1977: Regula Renschlers Wer sagt denn, dass ich weine. Geschichten über Kinder in Afrika, Asien und Lateinamerika konnte bis 1990 achtmal aufgelegt werden. Mit dieser Publikation – erschienen in der Reihe »LenoZ« als Band 1 – begann eine mehrjährige publizistische Kooperation mit dem Basler Z-Verlag. Und als erste Übersetzung erschien eine von Rolf Herzog besorgte Übertragung der Autobiographie von Garry Davis, einem US-amerikanischen, später staatenlosen Friedensaktivisten und Initiator der Weltbürgerbewegung.
1977 bildete sich mit dem Titel Exekution einer Zeitung. Zur Basler Zeitungs-»Fusion« ein neuer, medienpolitischer Schwerpunkt heraus, der ab 1980 in der Reihe »Mediaprint« ein entsprechendes Gefäss fand.

Der Wendepunkt
Das Jahr 1978 wurde zum Wendepunkt: Aus der Lenos-Presse wurde die Lenos Verlag AG, eine im Handelsregister eingetragene Aktiengesellschaft. Eine bezahlte 50%-Stelle konnte für Heidi Sommerer finanziert werden.
Einen grossen Rückschlag brachte das Jahr 1979: Durch eine Gasexplosion im Verlagsdomizil an der Friedensgasse 7 in Birsfelden wurde die Verlegerin schwer verletzt, Lager, Technik, Mobiliar und Geschäftsunterlagen wurden zerstört. Doch was das Ende hätte bedeuten können, wurde zu einem Neubeginn nach dem Motto »Jetzt erst recht«: 1980 mit einer Vollzeitstelle für Heidi Sommerer und 1981 mit dem Bezug neuer Räumlichkeiten an der Wallstrasse 9 in Basel.

Neue Akzente
Auch programmlich wurden neue Akzente gesetzt: Mit dem Erzählungsband Das Land der traurigen Orangen des palästinensischen Autors Ghassan Kanafani hielt 1983 die arabische Literatur Einzug im Lenos Verlag. Nach einigen Sachbüchern zum Nahostkonflikt setzten Tom Forrer und Heidi Sommerer von nun an – seit 1983 verantworteten sie nur noch zu zweit die Verlagsleitung – auf (vorzugsweise literarische) Originalstimmen. Moderne arabische Literatur in Übersetzung hatte es bis dahin im deutschsprachigen Raum praktisch nicht gegeben, selbst wichtige Autoren waren nur vereinzelt übersetzt oder fehlten gänzlich. Mit Ghassan Kanafani rückte Lenos einen der bedeutendsten zeitgenössischen arabischen Schriftsteller in den Fokus, heute ist sein gesamtes Werk übersetzt zugänglich. In stetiger, enger Zusammenarbeit mit Übersetzerinnen und Übersetzern – Hartmut Fähndrich, Regina Karachouli, Doris Kilias, Christine Battermann u.a.m. – hat Lenos bisher eine mehr als hundert Titel umfassende Bibliothek moderner arabischer Literatur geschaffen, die in der Verlagslandschaft ihresgleichen sucht: Romane und Erzählungen aus einem Kulturraum, der sich von Marokko bis nach Saudi-Arabien erstreckt. International ausgezeichnete, bedeutende Werke von Autoren der Moderne, wie Tajjib Salich mit der Zeit der Nordwanderung (1998), Alaa al-Aswani mit dem Jakubijân-Bau (2007) oder Ibrahim al-Koni mit den Magiern (2001), fanden auch auf Deutsch grosse Beachtung. Autorinnen wie Salwa Bakr, Emily Nasrallah, Alia Mamduch und Iman Humaidan konnten erstmals in deutscher Sprache gelesen werden.
1995 begann mit der Lebensgeschichte Thymian und Steine der Palästinenserin Sumaya Farhat-Naser (herausgegeben von Rosmarie Kurz und Chudi Bürgi) eine bis heute andauernde Zusammenarbeit mit der vielfach preisgekrönten Autorin und Kämpferin für den Frieden. Ihre autobiographisch inspirierten Bücher rücken das Schicksal der unter Besatzung lebenden palästinensischen Bevölkerung nachhaltig in den Fokus der deutschsprachigen Öffentlichkeit und stossen auf ein breites Interesse.

Literatur aus dem Maghreb und der Romandie
1984 wurde mit Ali Ghalems Die Frau für meinen Sohn die Vermittlung französischsprachiger Literatur aus dem Maghreb ergänzend zu den arabisch schreibenden Autorinnen und Autoren gestartet. Seither können bei Lenos mit Mahi Binebine, Kaouther Adimi, Driss Chraibi oder Salim Bachi weltweit beachtete Werke in deutscher Sprache entdeckt werden.
1986 widmete sich der Verlag erstmals einem Autor aus der französischsprachigen Schweiz: mit der von Giò Waeckerlin Induni übersetzten Biographie Blaise Cendrars von Miriam Cendrars. Im Hinterland des Himmels war dann 1987 der erste übersetzte Text des grossen Schriftstellers, dem in den nächsten dreissig Jahren viele weitere Titel folgten. Heraus ragen der Band Ich bin der Andere (Poésies complètes) in der Übersetzung von Peter Burri und die Erzählungen aus dem Grossen Krieg, Ich tötete – ich blutete, herausgegeben und übersetzt von Stefan Zweifel.
Der Literatur aus der französischen Schweiz schenkte Lenos seither stetige Beachtung: Alice Rivaz (übers. von Markus Hediger), Yvette Z’Graggen (übers. von Markus Hediger, Yla M. von Dach, Hedi Wyss, Regula Renschler u.a.) oder Jacques Chessex (übers. von Marcel Schwander) gehören neben anderen zu den »Perlen« aus der Romandie. Damit fand das Verlagsprofil eine weitere programmatische Ergänzung, die aufmerksam gepflegt wird.

Reiseliteratur
Die Reiseliteratur bei Lenos nahm 1988 ihren Anfang mit den von Roger Perret herausgegebenen ausgewählten Werken von Annemarie Schwarzenbach. Die weitgereiste Schweizer Journalistin und Schriftstellerin gehört zu den wichtigsten Autorinnen dieses Genres. Ihre Werke sind mittlerweile Kult, ebenso wie diejenigen ihrer – zeitweiligen – Mitreisenden Ella Maillart, die ebenfalls bei Lenos erscheinen.
Mit Nicolas Bouvier (übers. von Regula Renschler, Hilde und Rolf Fieguth, Markus Hediger, Giò Waeckerlin Induni, Stefan Zweifel und Yla M. von Dach), dem international gefeierten »Star« der Literatur des Reisens, gehört ein weiterer Autor aus der französischen Schweiz zu den Longsellern des Verlags. Der Klassiker Die Erfahrung der Welt war in der frankophonen Welt schon lange Kult, bevor er 2001 auch im deutschsprachigen Raum wiederentdeckt wurde. Seit 2002 erschienen acht weitere Titel von Nicolas Bouvier.

Sachbuch
Eine wichtige Sachbuchautorin der jüngeren Verlagsgeschichte ist die Biologin Florianne Koechlin. 2005 kam ihr erstes, vielbeachtetes Buch bei Lenos heraus: Zellgeflüster. Streifzüge durch wissenschaftliches Neuland. Seither veröffentlichte sie noch fünf Bücher, zwei davon zusammen mit Denise Battaglia.

Neues, eigenes Domizil
Seit 1991 befindet sich der Verlag in eigenen Räumlichkeiten am Spalentorweg 12 in Basel, nachdem das Domizil an der Wallstrasse dem Bau eines neuen Bankgebäudes zum Opfer gefallen war.

Neue Programmschwerpunkte
Die bisherigen Programmschwerpunkte wurden weiter gepflegt und ausgebaut, neue Autorinnen und Autoren aus der deutschen Schweiz, wie Michelle Steinbeck, Werner Rohner, Gerold Späth, Andrea Gerster, Claude Cueni, Gabrielle Alioth oder Julia Kohli, publizieren ihre Werke bei Lenos. Auch aus der Romandie wurden neue Stimmen übersetzt, wie Sandrine Fabbri (übers. von Yla M. von Dach), Douna Loup (übers. von Peter Burri), Jean-François Haas (übers. von Hilde Fieguth) oder das Autorenkollektiv AJAR.
Mit Dr gläi Brinz, der baseldeutschen Version von Antoine de Saint-Exupérys Klassiker Le Petit Prince, übersetzt von Anne Burri, erschien 2016 erstmals ein Titel in Mundart.
Mit LENOS POLAR und LENOS BABEL wurden 2016 bzw. 2019 zwei Gefässe geschaffen, die das Verlagsprogramm klarer strukturieren und ihm neue Nuancen verleihen.
LENOS POLAR bedeutet Spannung mit literarischem Anspruch: Kriminalromane und Thriller, die menschliche Abgründe und soziale Tragödien jenseits von Schwarzweissmodellen erkunden. Mit Asphaltdschungel von Joseph Incardona (übers. von Lydia Dimitrow), Taqawan von Éric Plamondon (übers. von Anne Thomas) und der Coachin von Nicolas Verdan (übers. von Hilde Fieguth) ist ein verheissungsvoller Start gelungen.
LENOS BABEL steht für das internationale Programm, für Vielstimmigkeit, das Sichtbarmachen anderer Kulturen und Gesellschaften. Dabei bildet die zeitgenössische arabische Literatur nach wie vor einen Schwerpunkt.
Dazugekommen sind Übersetzungen aus dem Englischen: Als der Kaiser ein Gott war von Julie Otsuka und Minarett von Leila Aboulela, beide übersetzt von Irma Wehrli.
Seit 1991 verfügt der Verlag über eine eigene Taschenbuchreihe: LENOS POCKET (LP), nunmehr mit über 200 Titeln im Markt. Seit 2013 bringt Lenos die meisten Neuerscheinungen parallel auch als E-Book heraus, der erste Titel war Nicolas Bouviers Skorpionfisch, übersetzt von Stefan Zweifel. Sukzessive werden auch ältere Bücher digitalisiert.

Auszeichnungen
In seiner Geschichte durfte sich der Verlag über zwei besondere Anerkennungen freuen: den Basler Literaturpreis im Jahr 1993 und den Preis des Schweizer Buchhandels, mit dem Lenos 2012 als Verlag des Jahres ausgezeichnet wurde.

Das Team
Heute gehören zum Verlagsteam seit dem Ausscheiden von Heidi Sommerer im Jahr 2005 Tom Forrer, der Verleger der ersten Stunde, Christoph Blum (seit 2008), Lucia Lanz (seit 2017) und Anne Burri, die die Verlagsarbeit punktuell im Lektoratsbereich unterstützt.
Fünf Vertreter in Deutschland, eine Vertreterin in Österreich und ein Vertreter in der Schweiz bilden die Schnittstelle zum Buchhandel.
Seit der Gründung des Verlags gelten im Wesentlichen noch immer dieselben Grundsätze: finanzielle und ideelle Unabhängigkeit sowie das Entdecken und Vermitteln von Texten, die in vielfältiger Weise neue Horizonte eröffnen.