LENOS
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LENOS POCKET 160
www.lenos.ch
Lenos Verlag
Gerold Späth
Aufzeichnungen eines Fischers
(das erste Jahr)
LENOS POCKET 160
Überarbeitete Taschenbuchausgabe
Erste Auflage 2012
Copyright © 2006 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Umschlagbild: David Inshaw, Pyrotechnics, 1995–2004 (Ausschnitt)
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 760 5
FÜR
VEIT UND STINE, SALOME UND ANDREAS
EMILIE UND ITAL, JAKOB UND ZENO
Wenn ich in deinem Bauch gewesen bin Mamma
Ja Schanglimaaa
Wie bin ich denn in deinen Bauch hineingekommen Mamma
Ach Herrjeee
Und wie bin ich denn aus deinem Bauch herausgekommen Mamma
Also Jeanot
Willstu nicht fischen gehn heut Nachmittag
Brauchstu nicht zwanzig Rappen für n neuen Haken
Hier hastu n ganzen Fünfziger
Dafür gibts drei
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Heh du dort! Was machst denn du in dieser Kälte! In
aller Herrgottsfrühe!
Die alte Frau Leu. Herrgottsfrühe mittst am Vormittag.
Trödelt durch die hintere Allee daher, dick schwarz ein-
gemummt mit ihrem kleinen ter am Ufer entlang; im
Näherkommen ihr Gekeiche: ein aus ein aus. Fünfzig Jahre
Asthma.
– David dreissig ich will dich erheben o Herr! Denn du
hast mich aus der Tiefe! Aus der Tiefe gezogen!
Krächzt und streckt Arm und Spazierstock herüber wie
eine Fischerrute.
– Passt genau zu dir! Aber jetzt beisst dir doch! Beisst
dir doch kein Schwanz an!
Hoch in den achtzig und duzt mich seit je und ihr Leben
lang am See aber null Ahnung von Fisch und Fang.
– Bei dieser Kälte ist die letzte Forelle schon lang! Aus-
gewandert ins mittelländische Meer! Oder nach Afrika!
Weisst du das nicht!
Diesen Spruch kenne ich. Ist von Fritz; er hockt minde-
stens so oft wie ich bei ihr im Engel.
– Pass auf dass du nicht anfrierst! sie geiert herüber,
es schiesst ihr weiss aus dem Kragen. – Oder bist du schon
stocksteif gefroren!
Pause.
– Heh! Warum sagst du nichts!
Da sag ich ihr sie soll der Liese sagen sie solle gut aus-
lüften und einheizen. In einer Halbstund pack ich hier zu-
sammen.
(Die Liese ihre Tochter; früher hochnäsig prüde Zwit-
sche. Jetzt ziemlich nervöse alte Jumpfer.)
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– Oh das freut uns! Wird die Liese freuen! KaffeeSchnaps
oder Glühwein!
Sie nickt und lacht mich an. Schwarze Nasenwarze.
Mouche mittst in den Runzeln. Ist dann davongekeicht, ihr
terlein schon weit voraus (klemmt sich einem sonst gern
ans Hosenbein zum drauf Herumjockeln; ist ihm heut zu
kalt gewesen).
Ich auf meiner Eisenbank nachher wieder weit und breit
allein an der Bucht, aber keine richtige Dezemberstille
mehr; im Ohr ihr Gekräh wie Gekreiss über dem Wasser.
Drum bald die Rute aufgenommen, Schnur herein und zu-
sammengepackt. Dafür jetzt zu Hause das da angefangen.
Fher Dezember und seit zwei Wochen saukalt.
Jetzt gestern Nachmittag auf einmal ein Südwind von
ennet dem See. Im Fhling und Herbst wärs der Etzelföhn
aus dem Frauenwinkel, jetzt eine Art lauer Fallwind dort
die Hänge herab – und kaum hier: sofort Seerauch.
Direkt überm Wasser dichte Nebelschwaden, gute zwei
Meter hoch wallen sie auf. Ein wild wellender Nebelsee di-
rekt über der unbewegten Seehaut. So etwas sieht man nur
alle paar Jahre.
Diesmal zuerst ein schmaler Streifen von ganz vorn beim
Kapuzinerkloster bis zum Kieswinkel zuhinterst in der
Bucht fünfzehn Schritt linkerhand von meinem Platz. Aber
schon Minuten später immer breiter das weisse Gebrodel weit
hinaus und schliesslich überm ganzen See so weit man sieht.
Dann nach etwa einer Stunde: husch und vorbei. Al-
les wie aufgeschleckt, das warme Windchen weggeblasen.
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Flach daherschleichende Kälte. Das Wasser bleigrau, eine
rätselhafte Wasserfarbe. Die Ufer dunkel und immer schwe-
rer. Auf einmal hängt der Winter über der Landschaft. Ich
seh schon Schnee herabtaumeln. Die Flocken immer dichter
und so lautlos wie sonst gar nichts.
Aufschreiben: Dass ich schon mit vier Jahren gefischt habe.
In der Nachbarschaft die Orgelbau-Anstalt Gabler. Ein
Lehrbub schenkt mir eine Tannenholzleiste, etwa einszwan-
zig lang. Statt Ringe wie bei Fischerruten ein paar Agraf-
fen, da uft weisses Garn hindurch. Hinten zwei Nägel,
da kann ich’s drumwickeln. Vorn drangebunden: ein ge-
krümmtes Nägelchen. Das Baumwollgarn der Mutter ab-
gebettelt.
Mit sowas kann man nicht fischen, klar, eine steife Latte
ist keine Fischerrute. Aber man kann so tun als ob. Ich
stehe also genau da, wo ich jetzt am Ufer hocke, ziemlich
lange her, und hänge den gekrümmten Nagel hinein. So
tun als ob ist ein Anfang. Alle haben mitgespielt, nur die
Fische nicht.
Mein wirklich erster Fisch: Es ist heisser Sommer, wir
haben Hitzeferien. Der gesamte Nachwuchs unserer See-
landschaft planscht von früh bis spät. Ich vorn beim Ka-
puzinerzipfel bauchtief nah am Ufer. Da kommt ein Fisch-
schwarm und ich knalle einen Stein mittst hinein. Freudige
Überraschung: ein Fischchen kommt kieloben herauf. Eine
kleine Schwale, hinter den Kiemen ein schartiger Schnitt.
Mein erster Fisch.
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Mir dies und das zu merken wenn ich hinter meiner Rute
hinten in der Bucht am Wasser hocke: da drauf hat mich der
Fritz gebracht. Fritz Weingarth, Freund seit Kindsbei-
nen, aber etwas anders als ich sein Lebtag mit hochklassi-
scher Seidenkrawatte (kauft er alle in einem Edelschuppen
am Markusplatz von Venedig). Inhaber von exklusivem
Schmuck- und Uhrengeschäft am hiesigen Postplatz. Ori-
ginalton:
Teure Ührchen
Und Karfonkeln
Für luftige Damen
Mit windigen Onkeln
Ist vormals Vater Weingarth’s Emporium und Bazaar
gewesen: Augengläser, Baro-Thermo-Micro-Meter, Kron-
juwelen, Zeit- und Fieber-Messer. Fritz hat den Laden vor
ein paar Jahren an die Benigna Stoob mehr verschenkt als
vermietet. Vorwand: so ein Betrieb laufe nur mit Volldampf
rassig, aber zum in dieser Branche richtig Gas geben brauch
es heutzutag eine gut ausgebaute kulante junge Circe – (zu-
gegeben: die schöne Benigna ist eine ausnehmend anmäche-
lige Pracht).
Er meint, unser Platz an der Bucht sei im Vergleich wie
ein bequemes Gartenmöbel am Rand einer Sommerparty:
Du stehst herum und trinkst ein Glas. Aber immer flacher
das Gerede. Da siehst du das leere bel abseits vom Ge-
schwafel und schiebst ab und höckst dich hinein in die stille
Bequemlichkeit. Es ist wie hier. Alles zieht an uns vorbei.
Die ganz hiesige Menagerei.
– Ich: Grad alle kommen zum Glück nicht vorbei.
– Er: Siehst du. Noch ein Platzvorteil.
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Er damals: Auch mit der Bude eines italienischen Barbiere
nne man unsere Ecke vergleichen, dort laufe alles zusam-
men was kommt und geht. Überhaupt sei Italien eine ein-
zige Figaro-Boutique und seit je ein guter Resonanzkasten
r wer eine grosse Röhre hat (Der alte Sabatini, Vater
seiner Serafina, seinerzeit von dort zu uns eingewandert aus
Mantua oder Modena: sie haben seit langem ein altes Bau-
ernhaus in den Hügeln oberhalb Parma).
Kürzlich mal wieder draufgekommen, dass von den vier-
unddreissig Schülern unserer Klasse nur fünf hiergeblieben:
vier Buben und ein dchen. Alle andern weit im Land
herum verstreut und mindestens ein Dutzend ab ins Aus-
land.
Franz Stamm: Florida.
Aldo Kühne seit bald 40 Jahren in Australien.
Rolf Beer: zuletzt in Ägypten.
Armin Koch: USA oder Canada.
Rosmarie Reber: Hotelmanagerin auf irgendeiner west-
indischen Insel.
Und so weiter.
Letzte Klassenzusammenkunft vor neun Jahren. Heinz
Aschmann, Lausanne oder Genf, kurz vorher hinüber. Lun-
genkrebs (hat natürlich wie wir alle schon in der Schule
Nielen geraucht, so heissen von den wilden Waldreben die
dürren Stengel; dann Brissago. Krumme Hunde. Toscani:
lauter Sargnägel).
Unsere erste Tote schon vor etwa 35 Jahren: Marlen
Müller. Auffahrunfall: eingeklemmt und zerquetscht ir-

Gerold Späth
Aufzeichnungen eines Fischers (das erste Jahr)


Lenos Pocket 160
Paperback
ISBN 978-3-85787-760-5
Seiten 260
Erschienen September 2012
€ 16.00 / Fr. 18.00

In den Aufzeichnungen eines Fischers (das erste Jahr) blättert Gerold Späth immer neue Schichten und Facetten einer Welt auf, die unzählige skurrile Geschichten bereithält. Im Zentrum des Romans, an dem der Autor viele Jahre gearbeitet hat, steht Jeanot. Seit dem Verlust seiner Arbeitsstelle ist Jeanot Fischer und hat seinen Stammplatz am See. Hier trifft er seine Freunde, hier holen ihn Erinnerungen ein an vergangene Zeiten, hier sinniert er über den Lauf der Dinge.

Und über alles, was er sieht und bedenkt, führt er heimlich Buch – mit unvergleichlichem Sprachwitz und immer wieder changierendem Ton und Tempo. Und zugleich ist das, was Späth seinen sprachverliebten Protagonisten schreiben lässt, weit mehr als bloss ein Tagebuch: Es ist das liebevolle, ironisch grundierte Porträt eines kleinen Universums, das voller Überraschungen steckt.

Der zweite Teil des Romans – auch er ist mit leichter und souveräner Hand erzählt – ist unter dem Titel Mein Lac de Triomphe erschienen.

Pressestimmen

Und Späth hat Sprache. Wer so viel Sprache hat, der hat die Welt, hat das Leben, kann sie in Geschichten festhalten, die so kurz, schnell, rastlos sind, dass man keine nacherzählen könnte, ohne sie länger, schwerfälliger und langweilig zu machen.
— Hannoversche Allgemeine Zeitung
So sind sie, die Mitbürger, Freunde, Nachbarn, die BMW-Fahrer und Kleinunternehmer, die Zinseinnehmer und Barkeeper, die Hundebesitzer und Schwiegertöchter – Leute zum Lieben.
— Basler Zeitung