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Lenos Verlag
Habib Selmi
Die Frauen von al-Bassatîn
Roman aus Tunesien
Aus dem Arabischen übersetzt
und mit einem Nachwort versehen
von Regina Karachouli
Die Übersetzerin
Regina Karachouli, geboren 1941 in Zwickau. Studium der Arabistik
und der Kulturwissenschaften in Leipzig. Promotion über Dramatik und
Theater in Syrien. Von 1975 bis 2002 Lehr- und Forschungs tätigkeit am
Orientalischen Institut der Universität Leipzig. Übersetzerin zahlreicher
literarischer Werke aus dem Arabischen (u.a. von Sahar Khalifa, Alia
Mamduch, Hanna Mina, Sabri Mussa, Tajjib Salich, Baha Taher und
Nihad Siris).
Die Übersetzung aus dem Arabischen wurde aus Mitteln der Schweizer
Kulturstiftung Pro Helvetia unterstützt durch litprom Gesellschaft
zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V.
Titel der arabischen Originalausgabe:
Nisâ’ al-Basâtîn
Copyright © 2010 by Habib Selmi
Erste Auflage 2013
Copyright © der deutschen Übersetzung
2013 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Umschlagfoto: Keystone / Sylvain René
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 439 0
Die Frauen von al-Bassatîn
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Die Grünanlage vor den Wohnblocks ist unverändert, nur
die Pflanzen sind gewachsen. Die Zypressen ragen her,
und die Oleanderbüsche blühen üppiger.
Schnell und mühelos habe ich sie gefunden, trotz der
Neubauten, die im Viertel al-Bassatîn inzwischen wie Pilze
aus dem Boden geschossen sind. Der Park liegt direkt an
der Rue Abou El Kacem Chebbi, der Hauptstrasse vor
der Polizeistation, die man nicht einmal nachts übersehen
könnte.
Durch die Anlage führt ein langer, gepflasterter Weg,
von dem mehrere kurze Pfade zu den verstreuten Gebäuden
abzweigen. Meinen schweren Koffer hinter mir her rollend,
tappe ich den Weg entlang, umfahre die Löcher, soweit ich
sie im Laternenlicht erkennen kann, und weiche den Kat-
zen aus, die in den achtlos entsorgten Abfällen und Essens-
resten herumstöbern. Am Eingang des Gebäudes, in dem
mein Bruder Ibrahîm wohnt, kann ich keinen Lichtschalter
finden. Vorsichtig taste ich mich im Dunkeln die Treppe
hinauf. Es gibt nur vier Etagen, seine Wohnung liegt in der
obersten. Ein anderes Stockwerk kommt für ihn nicht in
Frage. Er sagt, allein die Vorstellung, dass über seinem Kopf
»Männlein und Weiblein miteinander essen und schlafen,
baden und Sex haben, pinkeln und pupsen«, würde ihn x
und fertig machen und ihm das Leben vermiesen.
Ibrahîm umarmt mich lange und herzlich. Von allen
meinen Geschwistern steht er mir schon altersmässig am
nächsten, ich bin nur ein Jahr älter. Jussra, seine Frau, küsst
mich diesmal nicht zur Begrüssung, wie sie es sonst immer
getan hatte. Sie hält mir schlaff die Hand hin, wobei sie
gleichzeitig mit dem Oberkörper vor mir zurückweicht.
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Dieses seltsame Benehmen verstehe ich erst, als sich Ibra-
hîm herüberbeugt und mich aufklärt: »Sieh mal, das ist
so Jussra verhüllt sich mlich « Als wollte er sich
gegen eine gefährliche Beschuldigung verteidigen, setzt er
eilig hinzu: »Sie hat das ganz alleine beschlossen, sie wollte
sich verhüllen. Ich habe nichts damit zu tun!«
Jussra senkt den Kopf. »Ich hatte mir schon seit einer
Weile vorgenommen, den Hidschâb zu tragen. Gott, der Ge-
priesene und Erhabene, hat mir endlich die Augen geöffnet.«
Wâil, ihr einziger Sohn, kommt angerannt und wirft
sich in meine Arme. Ich habe nicht erwartet, ihn zu dieser
späten Stunde noch zu sehen, morgen ist schliesslich kein
Wochenende. Wâil habe unbedingt bis zu meiner Ankunft
aufbleiben wollen, erklärt Ibrahîm. Nicht bloss um guten
Abend zu sagen und seinen Onkel wiederzusehen, von dem
er immer so viel gehört hat, sondern auch um zu schauen,
was ich ihm mitbringe. Jussra habe ja von nichts anderem
mehr geredet, seit sie wusste, dass ich zu Besuch komme.
Ich gebe Wâil gleich mal eine Schachtel Schokobon-
bons, die ich im Flughafen Orly im Duty-free-Shop gekauft
hatte, um das Kleingeld in meinen Jackentaschen loszuwer-
den. Ach, diese Sorte kenne sie genau, kommentiert Jussra.
Solche Bonbons holten viele Nachbarn r ihre Kinder
vom Carrefour, einem französischen Supermarkt, der vor
zwei Jahren in Tunis eröffnet worden sei. Was wohl heis-
sen sollte, dass so ein Mitbringsel eigentlich nichts wert war
und in keiner Weise dem Anspruch an ein Psent gerecht
wurde, wie es jemand, der in Frankreich lebte, nach lan-
ger Abwesenheit dem einzigen Sohn seines ihm besonders
nahe stehenden Bruders zu überreichen hatte.
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Zum Glück habe ich noch andere Dinge für Wâil be-
sorgt. Diese Schachtel Schokobonbons hatte ich sowieso
nicht als Geschenk betrachtet. Um jedes Missverständnis
auszuräumen, vernde ich rasch, bevor wir uns an den
Tisch setzen, den Jussra bereits brechend voll mit meinen
Lieblingsspeisen beladen hat, dass ich auch zwei richtige
Geschenke r Wâil hätte, Ibrahîm möge doch mal meinen
Koffer herbringen. Ich klappe ihn auf, ziehe eine Plastiktüte
heraus und gebe sie Wâil, der jede Bewegung mit blitzen-
den Augen verfolgt hat. Sofort fährt er mit beiden Händen
hinein und nimmt das Hemd und die Hose heraus, die ich
ihm gekauft habe. Danach gibt er die Sachen an Jussra wei-
ter, als wären sie keine Geschenke für ihn, sondern für seine
Mutter.
Das Hemd ist braun und die Hose hellblau, der Stoff
von sehr guter Qualität. Catherine hat die Kleidungsstücke
ausgesucht. Ich wollte sie unbedingt bei dem Kauf dabei-
haben. Auf den Geschmack meiner Frau ist Verlass, vor al-
lem, wenn es etwas für Kinder ist. So konnte ich mir ganz
sicher sein, dass sie Jussra und Ibrahîm zusagen würden.
Ich befürchtete nur, dass sie Wâil vielleicht nicht passten.
Immerhin waren fünf Jahre vergangen, seit ich ihn gesehen
hatte, und ich erinnerte mich auch nicht mehr genau, wie
alt er damals gewesen war.
Jussra rückt ihr Kopftuch zurecht. Mit einer Hand hält
sie das Hemd, mit der anderen die Hose in die Höhe und
mustert sie wortlos. In diesem Moment wird mir klar, dass
ich mich vertan habe und dass alles viel zu gross ist.
»Zieht er sie eben im nächsten Sommer an«, meint Ibra-
hîm. Nach kurzem Schweigen fügt er hinzu, um mir aus
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der Verlegenheit zu helfen: »Aber das Hemd ist klasse
und die Hose sogar noch schöner. Ach ja, es gibt doch nichts
Besseres als Klamotten aus Frankreich oder Italien!«
Jussra nickt. Es ist deutlich zu sehen, dass ihr die Sachen
gefallen. Sie grämt sich nur, weil ihr Sohn sie nicht sofort
tragen kann. Nun muss er ein ganzes Jahr darauf warten.
Wie die meisten Frauen in al-Bassatîn geniesst sie es, vor
den Leuten zu protzen. Am liebsten wäre ihr gewesen, wenn
Wâil gleich morgen früh nach dem Aufstehen seine neue
Kleidung anziehen nnte, damit ihn Gross und Klein im
Viertel darin bewundern und alle staunen, was ihm sein
Auslandsonkel für teure Geschenke mitgebracht hat.
»Catherine hat sie ausgesucht«, erwähne ich beiläufig, als
hätte ich nichts bemerkt.
»Alle Achtung!«, sagt Ibrahîm, während er den Stoff be-
hlt. »Sie hat Geschmack, sie versteht es, gut auszuwäh-
len.«
Jussra faltet die Sachen sorgfältig zusammen und legt sie
zurück in die Tüte. Danach verlässt sie das Wohnzimmer,
um Wâil ins Bett zu bringen. Schweres Schweigen lastet
über dem Raum. Normalerweise re ich gar nicht mehr
auf zu reden, wenn ich Ibrahîm nach längerer Zeit wieder-
treffe. Ich überschütte ihn mit Fragen: Wie steht’s mit der
Arbeit? Und mit den Lebensbedingungen? Wie ist sein Ver-
hältnis zu unseren Brüdern und deren Frauen, zu unseren
Schwestern und deren Männern? Hat er Kontakt zur sons-
tigen näheren und ferneren Verwandtschaft? Zu denjenigen,
die noch in Madschâs al-Bâb wohnen, wo wir allesamt ge-
boren wurden, und denen, die nach ja fortgezogen sind?
Wird mir schliesslich die Fragerei zu langweilig, necke ich
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ihn, oder ich wärme die alten Schnurren auf, damit wir et-
was zu lachen haben. Diesmal habe ich überhaupt keine
Lust zu reden. Gut, mir war bewusst, dass Jussra zu der
Art Frauen gehört, die man nicht so leicht zufriedenstel-
len kann, besonders was Psente aus dem Ausland angeht.
Sie stirbt nicht an Herzdrücken, wenn es ein Geschenk zu
begutachten gilt. Ich weiss auch, dass sie zu mir eine spezi-
elle Zuneigung hegt und dass sie sich aufrichtig über meine
Besuche freut. Heute allerdings, das muss ich zugeben, bin
ich über ihre Reaktion einigermassen verblüfft. Nicht im
Traum hätte ich erwartet, dass sie sich so verhalten und we-
gen einer solchen Banalität einschnappen würde.
Ibrahîm scheint zu spüren, dass ich mich nicht wohl
hle. Er erkundigt sich, wie meine Reise verlaufen ist,
wann das Flugzeug in Orly gestartet und wie lange ich von
Paris nach Tunis unterwegs gewesen war. Schon klar, er will
mich zum Reden animieren. Als ich ihm kurz angebunden
antworte, steht er auf und schaltet den Fernseher ein.
»Gleich kommen die Nachrichten«, sagt er.
Bei der ersten Meldung kehrt Jussra ins Wohnzimmer
zurück. Ein wenig schaut sie mit. Dann meint sie mit einer
Mischung aus Überdruss und Ärger: »Dieses Gequatsche
haben wir satt. Mach den Fernseher aus.« Und indem sie
zum Tisch weist: »Jetzt essen wir jedenfalls, es wird ja alles
kalt.«
Nach dem Abendessen drängt mir Jussra einen grünen
Tee mit Pfefferminze auf, obwohl ich nicht gerade begeis-
tert bin, zu so später Stunde noch Tee zu trinken. Beim
ersten Glas erinnere ich mich, dass mein Koffer aufgeklappt
im Wohnzimmer liegt. Zugleich fallen mir die Geschenke

Shortlist Arabischer Booker-Preis (2012)

Habib Selmi
Die Frauen von al-Bassatîn

Roman aus Tunesien

Aus dem Arabischen von Regina Karachouli


Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-85787-439-0
Seiten 220
Erschienen August 2013
€ 22.90 / Fr. 28.50

Taufîk lebt seit langem als Lehrer in Paris, in seine tunesische Heimat kommt er nur noch selten. Umso grösser ist die Freude seines Bruders Ibrahîm, als er sich bei ihm und dessen Familie für drei Wochen einquartiert.

Aufmerksam und mit dem charakteristischen Blick eines Migranten, der zwischen zwei Kulturen lebt, registriert Taufîk, was sich in den letzten Jahren verändert hat: Ibrahîms Frau Jussra ist tiefreligiös geworden, ihr Sohn Wâil begleitet seinen Vater mit Begeisterung zum Freitagsgebet in die Moschee. Argwöhnisch beäugen sie ihre Nachbarin Naîma, die als Geschiedene Männerbesuch empfängt. Taufîk beginnt sich für die geheimnisvolle Frau zu interessieren und stellt ihr nach. In Tunis begegnet man Migranten wie ihm mit einer Mischung aus Bewunderung und Misstrauen. Allzu oft, so klagt man, protzten die Exiltunesier hier mit ihren grossen Autos, während sie in Frankreich nur die Drecksarbeit erledigten. Zugleich träumen nicht wenige Einheimische davon, auf irgendeinem Wege selbst nach Europa zu gelangen und dort ihr Glück zu suchen.

Habib Selmi schaut in seinem Roman von aussen auf die tunesische Gesellschaft und die sich verändernde Bedeutung der Religion im Leben der Menschen.

Pressestimmen

Neben dem bis ins Familiengefüge wirkenden Sozialneid ist es vor allem der Rückfall der einst progressiven tunesischen Gesellschaft in eine mehr äusserlich praktizierte als innerlich gelebte Frömmigkeit, der im Roman für Konfliktstoff sorgt. … Selmi schafft ein leicht hingetupftes Gesellschaftspanorama ohne moralinsauren Beigeschmack.
— Neue Zürcher Zeitung
In ihrem exzellenten Nachwort schreibt die Übersetzerin Regina Karachouli, Habib Selmi habe sich im Bewusstsein des vollen Risikos den drei grossen Tabus der arabischen Gegenwartsliteratur genähert: Sex, Religion und Politik. Dies gelingt dem Autor auf unaufgeregte Art und mit einer klaren und einfachen Sprache.
— St. Galler Tagblatt
Die Frauen von al-Bassatîn, im Original erschienen 2010, ist auch die Beschreibung der tunesischen Gesellschaft kurz vor Ausbruch des so genannten ›Arabischen Frühlings‹. Der Roman macht verständlich, warum gut ein Zehntel der Bevölkerung ein Leben ausserhalb des eigenen Landes bevorzugt und viele andere TunesierInnen ihre eigene Abwesenheit erträumen.
— OneWorld