LENOS
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Lenos Verlag
Annemarie
Schwarzenbach
Alle Wege sind offen
Die Reise nach Afghanistan 1939/1940
Ausgehlte Texte, Briefe und Fotografien
Herausgegeben und mit einem Essay
von Roger Perret
Erweiterte Neuausgabe
Erste Auflage 2021
Copyright © 2021 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Printed in Germany
ISBN 978 3 03925 011 0
www.lenos.ch
Ausgewählte Werke von Annemarie Schwarzenbach
Band 7
Herausgegeben von Roger Perret
Roger Perret, geboren 1950 in Zürich. Studium der Philosophie, Literaturkri-
tik und Komparatistik in Zürich. Er befasst sich publizistisch vor allem mit
Aussenseiterfiguren in der Schweizer Literatur. Herausgeber der Werke von
Franco Beltrametti, Nicolas Bouvier, Alexander Xaver Gwerder, Annemarie
von Matt, Hans Morgenthaler, Annemarie Schwarzenbach und Sonja Sekula.
Herausgeber (mit Ingo Starz) des Hörbuchs Wenn ich Schweiz sage … Schweizer
Lyrik im Originalton von 1937 bis heute und von Moderne Poesie in der Schweiz.
Eine Anthologie. Roger Perret wurde für seine editorische Tätigkeit mehrmals
ausgezeichnet.
Alle Wege sind offen
Vermutlich Gilbert Meylan: Annemarie Schwarzenbach und Ella Maillart
bei den Reisevorbereitungen, Genf, Anfang Juni 1939
Reiseroute der beiden Schweizerinnen, 1939
Inhalt
I Balkan-Grenzen
Balkan-Grenzen 15
Therapia 20
Trapezunt: Abschied vom Meer 25
Der Ararat 29
II Die Steppe
Die Steppe 35
Die Gefangenen 41
Niemandsland – zwischen Persien und Afghanistan 46
III Dreimal der Hindukusch
Herat, am 1. August 1939 … 53
Im Garten der schönen Mädchen von Kaisar 56
Das Antlitz des Grossen Buddha 61
Dreimal der Hindukusch 65
IV Turkestan, vergessene Tage
Nachrichten aus Europa 75
Das Nachbardorf 80
Das Oxus-Ufer 87
Turkestan, vergessene Tage 94
V Die Reise nach Ghazni
Die Frauen von Kabul 101
Der Tschador 106
Die Töpfer von Istalif 110
Die Reise nach Ghazni 115
VI Zwei Frauen allein in Afghanistan
Zwei Frauen allein in Afghanistan 121
Cihil Sutun 131
Ausgehlte Fotografien 1939/1940
VII Nach Peshawar …
Nach Peshawar … 211
Aden, eine Morgenvision 216
Die Reise durch den Suez-Kanal 222
Der Brand des »Orazi 227
Die Bucht von Bandra 233
Anhang I
Ausgewählte Briefe 1939/1940 239
Anmerkungen zu den Briefen 274
Ausgewählte Dokumente 286
Anmerkungen zu den Dokumenten 302
Anhang II
Essay von Roger Perret 307
Quellennachweis/Bildnachweis 330
Zur Edition 336
Zur Neuausgabe 339
Dank 344
I
Balkan-Grenzen
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Balkan-Grenzen
Man hatte uns von den Balkan-Strassen erzählt, und es liesse
sich ein Kapitel darüber schreiben, leicht und gern, jetzt, da
unser Ford alle Mühen hinter sich hat und, auf dem Deck
des türkischen Dampfers »Ankara« verstaut, der Küste Ana-
toliens entlangfährt. Auf unserer Landkarte war eine »In-
ternationale Strasse« eingezeichnet, von Triest über Zagreb
nach Belgrad, von Belgrad nach Sofia, von Sofia schnurstracks
nach Istanbul. Gewiss, sie existiert, diese Strasse: Hinter der
Hauptstadt Jugoslawiens gab es achtzig Kilometer Asphalt,
von Luleburgaz bis Konstantinopel sogar über hundert Kilo-
meter, und auf langen Strecken wurde gebaut, das hätte uns
trösten sollen. Doch wo gebaut wurde, gab es r uns keine
Strasse mehr, wir fuhren über das offene Feld. In Bulgarien
schickte man uns über einen Saumpfad, durch ein Gebirgs-
tal von phantastischer Schönheit, der Ford war geduldig wie
ein Maultier. Hinter Adrianopel endlich arbeiteten wir uns
durch eine kahle, wasserlose, offene Ebene, Lastwagen und
Autobusse hatten die verschlungene Wegspur unterhöhlt, viel
Steine gab’s und wenig Brot, und wir waren froh, überhaupt
vorwärts zu kommen, obwohl wir es nur auf acht Kilometer
pro Stunde brachten. Vor uns aber eilte das gelbe Bett der
zukünftigen Strasse pfeilgerade dem Horizont zu, die weis-
sen Zelte der Ingenieure leuchteten; Hunderte von Arbeitern,
Männer, Kinder und Greise, waren aufgeboten. Geduldige
Pferde und Ochsenpaare vor ihren Karren warteten engge-
drängt in der Mittagshitze am kargen Wegrand; unser Wa-
gen kochte, machte Halt vor unüberwindlichen Rinnen und
Löchern, es ging ihm beinahe der Atem aus. Und doch, es
wurde gearbeitet in der neuen Türkei, und hinter Luleburgaz
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war es wahrhaftig die geträumte, die zukünftige »Interna-
tionale Strasse«, die uns blitzschnell der hlen, verschleier-
ten Bläue des Meeres und den Mauern von Byzanz entgegen-
trug …
Genug von den Strassen: Wir haben uns vorgenommen,
den Leser daheim nicht zu langweilen mit den Alltagssorgen
unseres Autos. Warum haben wir uns darauf eingelassen, auf
solche Wege? Als ich, vor fünfeinhalb Jahren, zum ersten Mal
nach Osten fuhr, sass ich im Orient-Express (wir haben seinen
Schienenstrang, und einmal sogar seine verschlossene Wagen-
reihe gekreuzt), da war der Balkan eine Region von gleich-
rmiger Melancholie. Diesmal aber haben wir, zur Ernte-
zeit, die Grenzen kennengelernt. Welcher Reichtum, welche
Verschiedenheiten, und, wiederum, welche überall wieder-
kehrenden, schlichten Gesetze: Brot wurde gebacken, Obst
geerntet, Heu eingebracht, und die Viehherden weideten am
Simplon, in der Ebene von Treviso, an der Donau (da, wo sie
»Dunav« hiess) und an den Hügeln der europäischen Türkei.
In Simplon-Dorf hatten wir am ersten Abend mit unseren
letzten Schweizer Rappen beim Bäcker ein rundes Roggen-
brot gekauft, in dessen dunkle Rinde schöne Muster einge-
presst waren: ein Skorpion, Sternbilder und Buchstaben. Das
erste Stück dieses Schweizer Brotes assen wir zum Frühstück
im Piemont, vor unserem Zelt voller Tau, während ringsum
die italienischen Bauern mit geschulterten Sensen zur Arbeit
gingen; die letzte Kruste kauten wir in Bulgarien, kurz vor
der türkischen Grenze, da, wo es Weizen, Rosen und Erd-
beeren, Mais und Tomaten gibt, aber kein schwarzes Brot. In
der Zwischenzeit hatten wir vielerlei Brot gegessen. In Italien
klagten die Bauersfrauen ein wenig und zeigten uns ein paar
Getreidekörner in der rauhen Hand: »Daraus müssen wir
jetzt Kaffee machen.«
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In Slowenien, in einem Gasthof im Dorf Costanjavica, das
auf deutsch einst »Landstrass« hiess, bekamen wir Wiener
Kaffee, fette Milch und frische »Kipfel« zum Frühstück. Die
Wirtin, in kauderwelschartigem Deutsch, klagte auch ein
bisschen: Hier war früher Alt-Österreich, und wenn die Bur-
schen zum Militär gingen, kamen sie als »Herren« zurück;
die Kaiserin Maria Theresia besass in Landstrass ein Schloss,
wo sie Münzen schlagen liess. Davon ist im verwilderten Park
nichts mehr übrig, die Türken haben es zerstört. Was gibt
es zu klagen? Die Frau belehrt uns: Damals, in der guten al-
ten Zeit, gerte man zu einem grossen Reich und hatte eine
glänzende Residenz. Wenn auch die Wege in Costanjavica
dieselben sind, r die Kaleschen der Kaiserin, unseren Wa-
gen, und die Heuwagen der jugoslawischen Bauern – damals
gehörten die Deutschsprachigen zum besseren Volk Und
heute? Wir erfahren: Deutsche, von Maria Theresia angesie-
delte Kolonisten, Auswanderer und andere mehr, gibt es bis
hinunter nach Serbien; in den früheren Garnisonsstädtchen
sprechen die Kellner Deutsch, in Zagreb die Marktweiber.
Und viele dieser Deutschen denken, es wäre besser, wieder zu
einem grossen Reich zu gehören. Habsburg ist dahin, darum
kann es passieren, dass uns im Dorf Klostar mit seinen schö-
nen Klostergebäuden und seiner weissen, unmissverständlich
österreichischen Barockkirche eine ganze Schulklasse, der
Lehrer an der Spitze, mit »Heil Hitler« begrüsst Dafür
fragt uns eine alte Bäuerin, während wir im Schatten unter
ihrem Kirschbaum ausruhen: »Ist es wahr, liebe Herrschaf-
ten, dass der Hitler bis hier herunter kommen wird?« Sie ist
aus ihrer böhmischen Heimat ausgewandert (»die hmen
gingen nach Slowenien, wie die Slowenen nach Amerika«), sie
muss hart arbeiten, aber sie hat zu essen, und sie möchte ih-
ren Frieden … Ja, sie haben zu essen in Jugoslawien: Welche
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Fülle, die Äcker, Weiden und Wälder im Hügelland hinter
der italienischen Grenze, die riesigen, wogenden Felder an der
Donau und bis zu den Toren von Belgrad, und die Bauern
besitzen herrliche Gespanne, feurige, schmale ungarische Ap-
felschimmel vor ihren Heu- und Getreidewagen. Die Män-
ner sind in Weiss gekleidet, mit bunten Westen darüber, die
Frauen tragen gestickte Blusen und weite, wippende Röcke.
So sehen wir sie, des Abends, von den Feldern in die Dörfer
heimkehren, wo Gänseherden schnattern am lauen Dorfteich.
Orient? Okzident? Mit dem österreichischen Charakter ist es
vorbei, keine weissen Barockkirchen mehr auf grünen Hü-
geln – nennen wir es einfach: gesegnetes Bauernland.
Die bulgarische Grenze: fast ein Engpass, ein ganz schma-
les Tal, und Berge dahinter. Die Strasse ist im Bau, daher
machen wir einen Umweg und geraten, kaum ist das riesige,
einsame Grenzschild hinter uns, in eine abendliche Farben-
glut: rote Erde, ein Bergbach, grüne Weiden, weisses Vieh
und kahle Hänge. Das mutet schon asiatisch an, wenn die
Sonnenseite der Hügel schwarz und ohne Vegetation ist,
die Schattenseite aber wie eine Oase mit Wasser und tiefem
Grün! Einige Tage später fahren wir, hinter Sofia, durch das
berühmte »Tal der Rosen« auf Plovdiv oder Philippopolis zu,
und finden nicht nur wilde Rosenfelder, die violette Flut von
Lavendel, eine milde, von süssem Geruch erfüllte Luft, son-
dern auch die Dörfer ganz verändert. Reste der alten Türkei,
Männer in Pluderhose und buntem Turban, scheue Frauen,
schwarz verschleiert vom Kopf bis zur an der nackten Fessel
zusammengeschnürten Hose Mohammedanerinnen. Wie
Sklavinnen sehen wir sie am nächsten Tag in den Erdbeer-
feldern unter der Aufsicht eines herrischen »Patrons«, der die
vollen Kistchen am Wegrand stapelt. Gehören diese scheuen
und offenbar rechtlosen Wesen demselben Volke an wie die
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würdigen und freundlichen Bäuerinnen, die auf der Schwelle
ihrer dörflichen Hütten sassen, spinnend, und wie die singen-
den Mädchen in ihren roten Röcken?
Das Land wird urplötzlich kahl. Rechts fliesst die Ma-
ritza, dahinter liegt Griechenland. Wir aber nähern uns einer
neuen Grenze. Am steinigen Weg flattert im Abendhimmel
die Fahne der Türkei.
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Therapia
Von allen Namen, die nach einer langen Reise in meiner Erin-
nerung haften, ist mir dieser der liebste. Vielleicht weil er so
griechisch klingt, und so heiter wie ein anhebender Lobgesang
auf unbeschwerte, an schönen Gestaden verbrachte Tage?
Vielleicht weil er am Anfang stehen sollte und nun in eine
schon weit zurückliegende, verklärte Zeit gehört die Reise
hatte ja kaum begonnen, ich hatte kaum die Rebenhügel und
Bauernrfer Jugoslawiens, die Erdbeer- und Rosenfelder und
ockergelben Berge Bulgariens und die nadelfeinen Minarette
von Edirne hinter mir gelassen, und mich noch nicht an die
wechselnden Himmel der Balkanländer gewöhnt, da spie-
gelte sich schon Stambul im Bosporus!
Das bedeutete noch lange nicht ein erstes, vorläufiges
Ziel ich erkannte die gebuckelten Basardächer wieder; das
ansteigende usermeer und die feuchten Gassen von Vera,
die breit ruhende Pracht der Hagia Sophia und Süleymaniye,
rte auch die brandenden Geräusche der engen Grossstadt
und ass die gebratenen Fische und gezuckerten Früchte, die
ich schon einmal gekostet hatte. Alles schon einmal! Al-
les spiegelte sich wie in einer glänzenden Schwertscheide,
die weissen, von Menschen wimmelnden Brücken, die leise
schaukelnden Dampfer, die wen, und schliesslich die in
goldener Dämmerung vereinsamte, in Oliven und Ölhainen
fussende Stadtmauer. Mir war, als dürfe ich mich nicht an sol-
che Anblicke verlieren, es war zu vertraut und nichts hätte
mich gehindert, in einer der gewundenen, den Ufergel be-
deckenden Strassen von Beyog˘lu ein Zimmer zu mieten und
am Fenster sitzen zu bleiben, ein Stockwerk über dem hohlen
Gassenlärm, und teilnahmslos täglich hinunterzuschauen,
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bis zum Abend. Doch konnte ich es leicht nachrechnen: Ich
war erst wenige Tage unterwegs, hatte eben erst auf der Höhe
des Simplon vom Dorfbäcker ein rundes Schwarzbrot ge-
kauft, eben erst das letzte Stück davon gegessen, hinter der
türkischen Grenze, am Strassenrand, als schon im zartweis-
sen Nachthimmel verlockende, unantastbare Moscheetürme
auftauchten; eben erst hatte ich am Donauufer geschlafen,
im Schutz gelber Ährenfelder, war eben noch einer kleinen
weissen Barockkirche am ländlichen Wiesenhorizont ent-
gegengefahren und hatte Ochsenkarren, leicht trabende
Pferdegespanne überholt, auch eine singende Prozession von
Bauernkindern unter Baldachinen und wallenden Fahnen.
Gestern noch hatte ich von rostroten Klippen aus, nicht weit
von Triest, das Meer erblickt, schaumige Bläue! Da ich kein
besonderes Ziel hatte, auch nicht eines Tages Halt machen,
Ruhe finden, ein irdisches Paradies begrüssen wollte, sagte
mir das alles wenig man herte sich einem lange ange-
schauten Horizont, da versanken Kirchturm und Ährenrand,
Fahnen erloschen, Glocken verstummten, die Frauen trugen
andere Kopftücher und wippende Röcke; statt weisser, wei-
dender Rinder sah ich träge, ölig glänzende Wasserbüffel im
warmen Schlamm unter einer Brücke liegen, die Weite som-
merlicher Hügel und Felder war vorbei, eine schmale Strasse
hrte am Abhang eines romantischen, in gelbe, rostbraune
und violette Schatten gekleideten Tals mitten in Berge ohne
Namen hinein.
Wozu hätte ich ihre Namen auch kennen sollen! Einmal
so unterwegs, vergisst man allen Wissensdurst, kennt auch
keinen Abschied und keine Reue, fragt nicht nach dem Wo-
her und Wohin. Höchstens auf dem Zifferblatt kann man
nachrechnen, dass die Zeit sich schon um eine oder mehrere
Stunden fortbewegt hat und man also schon ziemlich weit
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nach Osten gelangt ist. Jeden Tag wird es unmöglicher, um-
zukehren, man will es auch nicht mehr. Die Kleider zerreis-
sen, gestehen, man sei zu weit gegangen, sei in dieser Fremde
wie ein Bettler, ein Kind ohne Bett, ein Priester ohne Kirche,
ein Sänger ohne Stimme – man verlange nach Geborgenheit,
rchte, vergeblich zu leben? Man möchte etwas wieder gut-
machen, Versäumtes nachholen?
Wir wissen alle nicht, wovon wir leben wie also nn-
ten wir etwas versäumen und das Versäumte bereuen? In
Stambul, als ich am späten Abend sehr de eintraf und
das uralte Gewölbe des Stadttors sich über mir schloss, das
Pflaster hallte, Öllämpchen die Basargasse erleuchteten und
endlich das nächtliche, schimmernde Wasser des Bosporus
sich dahinzog in unaufrlich gleitender Stille – da hätte ich
wohl aufatmen und einen Augenblick glauben nnen, ich
sei nun an irgendeinem Ziel und hätte dieses tausendfach
klingende Wiedersehen redlich verdient. Aber da hätten sich
bald furchtbare Zweifel eingestellt, ob dies auch der rechte,
der allerletzte Ort sei; im Traum tte ich die Dome ande-
rer Städte gesehen, und im Wachen ihre nenden Namen
auf Wegweisern und Landkarten gesucht. Die Reise verlangt
von uns keine Entscheidungen und stellt unser Gewissen vor
keine einzige Wahl, die uns schuldig und reuig, demütig und
trotzig macht, bis wir an aller Gerechtigkeit verzweifeln und
meinen, dieses Leben sei uns zum Irrgarten bestimmt, zur
unseligen Prüfung. Der Aufbruch ist die Befreiung o ein-
zige Freiheit, die uns geblieben ist! und verlangt nur den
ungebrochenen, den täglich erneuerten Mut …
So ging ich in Stambul traumwandlerisch umher, wollte
mich mit der sicht- und greifbaren Vertrautheit ringsum
nicht einlassen und sah über das ansteigende Dächermeer
hinweg immer zum asiatischen Ufer hinüber. Dort begann
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eine andere Welt, die kahlen, wie erstarrte Wogen aneinan-
dergereihten Hügel Anatoliens, dort wehten grössere Winde,
verhallte die Menschenstimme, weideten glänzende Herden
auf unermesslichen Weiden, dort gab es Rauchopfer, die sich
fortsetzten von Steppe zu Steppe ostwärts bis zu den schlitz-
äugigen Nomaden Turkestans und immer weiter bis an das
Gelbe Meer dort war die Schwelle, die ich überschreiten
musste …
Es ist lange her. Jener Anfang einer grossen Reise ist zu
einer sanften, einer unbeschwerten Erinnerung geworden, wie
ein Traum, den man nicht zu fürchten braucht und den man
nicht verliert. O Erinnerung! Dampfende Äcker, goldene Hü-
gel und die auf immer verhallten Hymnen, die nicht mehr
weh tun, das Herz nicht mehr bewegen.
Seither wurden Namen zu Bergen, der Ararat erhob sich
schneebedeckt aus Wolkenwänden, der gewaltige Hindu-
kusch war ehern, in der Wüste Turkestans wallte die lte
mit tödlichem Atem und der Schnelligkeit der berühmten
weissmäuligen Pferde; es verschlug einem das Wort.
Was bleibt mir von jener fürchterlichen Einsamkeit?
Therapia liegt so weit zurück wie die Kindheitsinseln. Al-
les schon einmal gesagt, alles überstanden, ich möchte jetzt
mein Gesicht vergraben und schweigen. Wenn ich trotzdem
diesen Namen beschre und liebe, so ist es vielleicht, weil
nichts ihn beschwert er stand ja am Anfang und nichts
ihm anhaftet als der von ganz leisen Abendwinden getra-
gene, schon wieder verwehte Duft von Himbeeren, die in
vielen rben, frisch gepflückt, am kleinen Hafen standen
zum Verkauf; das von Mondlicht gesättigte und besänftigte
Wasser schlug schlaftrunken an die Mauer, im von Terrasse
zu Terrasse ansteigenden Garten bewegten sich das Laub und
träufelndes Fackelfeuer der nächtliche Bosporus war eine

Annemarie Schwarzenbach
Alle Wege sind offen

Die Reise nach Afghanistan 1939/1940. Ausgewählte Texte, Briefe und Fotografien

Herausgegeben und mit einem Essay von Roger Perret


Klappenbroschur (Erweiterte Neuausgabe mit unveröffentlichten Texten, Briefen und Fotografien) (mit 72 Fotos von der Autorin und 22 weiteren Fotos und Abbildungen)
ISBN 978-3-03925-011-0
Seiten 344
Erschienen 8. Juni 2021
€ 28.70 / Fr. 33.00

Im Juni 1939 fuhr Annemarie Schwarzenbach mit der Genfer Reiseschriftstellerin Ella Maillart mit dem Auto nach Afghanistan. Das geplante Reisebuch kam nicht zustande. Stattdessen entstanden zahlreiche Feuilletons, Reportagen, Prosadichtungen und Fotografien. Diese Arbeiten sind im Buch chronologisch gegliedert und lassen die Leserin und den Leser an der äusseren und inneren Reise der Autorin teilnehmen.
Annemarie Schwarzenbach protokolliert als kritische Reporterin und Dokumentarfotografin die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen, während sie als Schriftstellerin die Abgründe ihres Ich im Spannungsfeld zwischen der oft atemberaubenden Fremde und dem Schatten des in Europa ausgebrochenen Zweiten Weltkriegs erkundet. Mitunter entstehen unvergessliche (Landschafts-)Bilder im elegisch-lyrischen Stil einer Autorin und Reisenden, die »alles gesehen, alles am eigenen Leib erfahren« hat.

Die Neuausgabe (2021) des 2000 erstmals publizierten Buches enthält zusätzliche Texte und vor allem zum Teil unveröffentlichte Fotografien, Briefe und Dokumente. Die legendäre Reise nach Afghanistan erscheint dadurch in einem neuen Licht. Dieser Band unterstreicht den Rang Anne­marie Schwarzenbachs als eine der bedeutenden Reiseschriftstellerinnen und -fotografinnen des 20. Jahrhunderts.

Pressestimmen

Mit welcher Poesie und Kraft sie aber ihren Blick auf das Fremde richtet, ist ganz und gar unbestechlich.
— Elke Schlinsog, Deutschlandfunk Kultur
Der hochbegabten und frühverstorbenen Autorin verdanken wir diese lebensvollen Aufzeichnungen aus einem längst versunkenen Orient.
— Frankfurter Allgemeine Zeitung
Die Reportagen von Annemarie Schwarzenbach beanspruchen als Zeitdokument ebenso viel Gültigkeit wie als Nachweis der aussergewöhnlichen Begabung der jung verstorbenen Autorin.
— Neue Zürcher Zeitung