LENOS
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Lenos Verlag
Ahmed Mourad
Vertigo
Thriller aus Kairo
Aus dem Arabischen
von Christine Battermann
Die Übersetzerin
Christine Battermann, geboren 1968 in Wuppertal, studierte Arabisch
und Türkisch in Bonn. 1996–2000 Lehrbeauftragte r Türkisch an der
Universität Bonn. Seit 1998 freie Literaturübersetzerin. Sie übertrug
u.a. Werke von Ahmed Khaled Towfik, Machmud Darwisch, Rosa Yas-
sin Hassan und Alexandra Chreiteh ins Deutsche und lebt in Köln.
Die Übersetzung aus dem Arabischen wurde vom SüdKulturFonds in
Zusammenarbeit mit
LITPROMGesellschaft zur Förderung der Lite-
ratur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V. unterstützt.
Zur Erleichterung der Aussprache arabischer Namen wurden in der
Übersetzung betonte lange Silben mit einem Zirkumflex (
^
) versehen.
Titel der arabischen Originalausgabe:
Vertigo
Erstmals 2007 bei Dar Merit, Kairo, erschienen
Copyright © 2010 by Ahmed Mourad
Erste Auflage 2016
Copyright © der deutschen Übersetzung
2016 by Lenos Verlag, Basel
Published by arrangement
with Bloomsbury Qatar Foundation Publishing (
BQFP)
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlaggestaltung und -motiv: Hauptmann & Kompanie, Zürich
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 463 5
Vertigo
Für den, der mir das Gefühl für die Menschen um mich herum gab,
meinen vertrauten Freund: meinen Vater.
Für die, die einmal gesagt hat: »Reiss dich los vom Atari!
Komm, ich kauf dir ein Buch, das gut für dich ist«,
und mit mir über die Buchmesse gestreift ist: meine geliebte Mutter.
Für die, die mich überredete, die Nacht über zu schreiben,
und eine Nebenfrau namens Vertigo im Haus ertrug:
meine kluge Frau.
Für mein Herz: meine Tochter Fâtima al-Sachrâa,
die allen als Tûta al-Sachlâa bekannt ist.
Für meine liebe Schwester Umm Mîschu,
für Mîschu und seinen Vater.
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April 2005
Grand Hyatt Hotel, 22 Uhr 30
Die lärmende Hochzeitsprozession vor dem Festsaal kündete
von einem neuen Opfer, dessen Name zusammen mit dem der
Braut auf einem goldenen Schild an der Tür stand: »Tausend
Glückwünsche, Châlid und Nancy!« Der Zug schritt so lang-
sam vorwärts, dass die dickbäuchigen, gelangweilten Tänze-
rinnen, die auf ihren pfen Kerzenleuchter balancierten, sich
zu ein paar pflichtschuldigen, allerdings kaum als Tanz zu be-
zeichnenden Bewegungen in der Lage sahen.
Angeführt wurde die Prozession von einem Drummer. Um
sich vom grellen Pink der übrigen Bandmitglieder abzuheben
und als ihr Maestro zu erscheinen, trug er eine Weste, deren
leuchtendes Himmelblau sich mit den Farben der Ärmel-
schen biss, und langes, in die Stirn fallendes Kraushaar.
Seine Kollegen bahnten ihm einen Weg durch die Gäste, da-
mit er, sich ganz dem Trommeln hingebend, wie ein Astro-
naut seine Runden drehen konnte.
Achmad Kamâl war bloss der Hochzeitsfotograf. Wie alle
Kollegen war er sich seiner Bedeutung für ein solches Ereignis
zwar sehr wohl bewusst, erfuhr aber nie die ihm gebührende
Anerkennung. Dabei nahm er Hochzeiten keinesfalls auf die
leichte Schulter. Stets kämpfte er darum, den entscheidenden
Augenblick, der lebenslang als Andenken dienen konnte, auf
Film zu bannen. An ihn selbst allerdings würde sich später
niemand mehr erinnern. Es ging ihm da wie einer Drohne, die
nur den Befruchter spielt und anschliessend den rtyrertod
stirbt, damit das Leben weitergehen kann und andere Honig
zu essen haben. In weinrotem Hemd, immer in Jeans und mit
einem hellbraunen Jackett darüber, sah er aus wie ein Serien-
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star aus den Achtzigern. Nur dunkelbraune Lederflicken auf
den Ellenbogen fehlten noch, sonst hätte man den perfekten
Chuck Norris vor sich gehabt. In seinem Inneren allerdings
war Achmad überzeugt von seiner grossen Ähnlichkeit mit
Amr Diâb
*
, nur hatte davon noch nie jemand Notiz genom-
men, obwohl er ständig bemüht war, sich wie dieser Star zu
kleiden, und sogar seine Art zu gehen imitierte. Auf elegan-
tes Auftreten legte er viel Wert, und er gab den grössten Teil
seines Einkommens, ja zur Not selbst sein letztes Pfund in
der Tasche dafür aus. Ausserdem unterwarf er sich im Salâch
Golden Gym gelegentlich einem Krafttraining, so dass er nun
als recht sportlicher junger Mann dastand, mittelgross und
mit Brille, hinter der sich ein Paar schelmische Augen verbarg.
Darunter hingen die schwarzen Halbmonde, an denen man
den Nachtarbeiter erkannte. Er sah so schlecht, dass selbst
Taha Hussain
**
Mitleid mit ihm gehabt hätte. Nie kam er vor
sechs Uhr morgens ins Bett, und nie verliess er eine Hoch-
zeit, ohne eine schöne junge Dame im Kopf zu haben, die ihn,
wie er meinte, die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen
hatte. In der Hoffnung, sie vielleicht einmal wiederzusehen,
hatte er sich allerdings damit begnügt, eine Porträtaufnahme
von ihr zu machen. Die zeigte er später, nachdem er ein paar
Retuschen vorgenommen hatte, seinen Kollegen und tat da-
bei so, als hätte das Mädchen dieses Foto und ausserdem seine
Telefonnummer von ihm verlangt und sich unsterblich in ihn
verliebt. Sie habe die Augen voll Tränen gehabt, erzählte er
dann möglicherweise, weil sie mlich schon gebunden sei
und ihr Verlobter neben ihr gestanden habe, während sie sich
* Einer der berühmtesten arabischen Sänger und zudem Schauspieler
(* 1961). (Alle Anmerkungen von der Übersetzerin)
** Einer der bekanntesten arabischen Schriftsteller, Publizist und Uni-
versitätsdozent und seit seiner frühen Kindheit blind (1889–1973).
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doch nichts weiter wünschte, als die Zeit zurückzudrehen, um
ihn, Achmad, kennenlernen zu können!
Er griff nach der Kamera, und um auf die Leute ringsum
selbstbewusst zu wirken, packte er sie fest am Gurt, als sei er
mit ihr in der Hand geboren worden. Damit sich das Geld für
das Fitnessstudio auch bezahlt machte, benutzte er die Kamera
dabei wie eine Hantel zum Anspannen seines Bizeps.
Die Hochzeitsprozession war vorüber, und nun begann der
DJ mit der Arbeit, für die er wie geschaffen war. Um die bösen
Geister auszutreiben, zelebrierte er für das Brautpaar und die
Verwandten einen Sar
*
, damit der Bräutigam seine Kraft ver-
lor und seine Träume von der Hochzeitsnacht aus dem Kopf
bekam. Damit begann Achmad Kamâls täglicher Kampf,
Braut und Bräutigam ohne störende Hände, Schultern oder
Köpfe ins Bild zu rücken, und das trotz all der anstrengenden
ste ringsum. Besonderes Augenmerk legte er dabei auf die
Freundinnen der Braut, die sich extra r diesen Anlass in Wi-
ckelkleider geworfen und transparente Schals umgelegt hat-
ten, als handele es sich um ein Defilee bei Coco Chanel. Wer
weiss, vielleicht würden sie ja heute dem Mann ihres Lebens
begegnen! Falls jedoch nicht, reichte ihnen auch ihr Spiegel-
bild in den Augen der jungen Burschen. Achmad wusste all
diese Blicke und Andeutungen zu lesen, ja, inzwischen war er
ein richtiger Experte darin, solche Verständigungssignale auf-
zufangen, ähnlich dem Funksoldaten im Zweiten Weltkrieg,
dem es gelungen war, den Code der Deutschen zu knacken.
Schliesslich kam der Zeitpunkt für das Buffet. In diesem
Moment zog Achmad sich normalerweise zum Rauchen auf den
Balkon über dem Nil zurück, vor allem seit es einmal zu einer
Auseinandersetzung mit Mister Rifat gekommen war, dem
Saalmanager des Hotels, der ihn neben den Gästen beim Buffet
* Erklärungen einiger arabischer Begriffe im Glossar auf Seite 398.
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hatte stehen sehen und in solch gellendes Geschrei ausgebro-
chen war, als stünde er vor dem Schlächter von Karmûs
*
: »Der
Herr kann essen, wenn die Gäste fertig sind!!!« Seitdem kam
Achmad nicht einmal mehr in die Nähe des Buffets. Allerdings
schloss er sich zuweilen seinen Kollegen im Material raum an,
um ein paar Garnelen mit orientalischem Reis zu vertilgen und
sich an seinem Lieblingsdessert Umm Ali gütlich zu tun.
Heute jedoch hatte er keinen Hunger. Er trat auf den Bal-
kon, blies Rauchkringel und vielleicht noch ein paar geo-
metrische Figuren in die Luft, die in der frischen Brise bald
zerstoben, und dachte an seinen Vater Kamâl Ibrahîm, der, als
Achmad neunzehn gewesen war, von ihm gegangen war und
ihn mit seiner Mutter, seiner Schwester Âja, der Kamera und
den Filmen allein gelassen hatte. Die Fotoausrüstung hatte
Achmad verkauft und das Studio einem neuen Mieter überlas-
sen, der in der Lage war, den monatlichen Zins aufzubringen.
Sein Vater hatte noch einige Schulden gehabt, deshalb war
Achmad nichts anderes übriggeblieben, als den Ort aufzuge-
ben. Vom Rest des Geldes kaufte er, um auf der Höhe der Zeit
zu sein, eine Digitalkamera und einen Computer, so schwer es
ihm auch gefallen war, sich von der Ausrüstung zu trennen,
an der noch der Geruch seines Vaters haftete. Das Einzige, was
er behielt, waren dessen Kontakte zu den altgedienten Hotel-
angestellten. Sie waren immer sehr gerührt, wenn sie Achmad
sahen, weil er sie an seinen Vater erinnerte und daran, was für
eine gute Seele er gewesen war. Nur Mister Rifat hatte es dar-
auf abgesehen, Achmad zu beleidigen. Aber der war zu seines
Vaters Zeiten auch noch nicht da gewesen.
* Der »Schlächter von Karmûs«, Saad Iskandar Abdalmasîch, geboren
1911, war ein Serienmörder, der ab 1948 und bis zu seiner Hinrichtung
1953 zahlreiche Frauen in Karmûs, einem Stadtteil von Alexandria, um-
brachte und die dortige Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzte.
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Es war schon Viertel nach drei, als Achmad den Saal ver-
liess, überzeugt, genug Aufnahmen gemacht zu haben, um
die gesamte Hochzeit zu dokumentieren, wie er es mit dem
Bräutigam verabredet hatte. Wie üblich begab er sich nun
in den vierzigsten Stock. Seine Ausrüstung hatte er in die
Tasche gepackt und die Speicherkarten an Salîm übergeben,
den Mann, der nach dem Tod seines Vaters die Fotolizenz des
Hotels erworben hatte. Er war ein kleines, dickes Geschöpf,
immer verschwitzt und stets mit einem feuchten Stoff-
taschentuch bewaffnet. Sommers wie winters trug er Anzug
und Weste über einem zinnoberroten Hemd und glänzend
schwarze Schuhe. Eine goldene Panzerkette baumelte ihm bis
auf die haarlose Brust, und sein dicker Hängebauch sah aus
wie der eines Lakritzsaftverkäufers. Die Kellnerinnen und
Tänzerinnen, ja selbst die Geschäftsleute, die im Hotel ver-
kehrten oder wohnten, traktierte er mit seinen Scherzen, in
denen es an sexuellen Anspielungen nicht mangelte. Es fehlte
nicht viel, und er hätte sich noch mit dem Treppengelän-
der angefreundet und damit ein Spionagenetz etabliert, das
über jeden Gast bestens informiert war. Ausserdem war er ein
begnadeter Selbstdarsteller und liebte es, im Mittelpunkt zu
stehen. Ursprünglich Assistent eines Künstleragenten, hatte
er sich mit sämtlichen privaten Telefonnummern der Klienten
abgesetzt und, obwohl er keine Ahnung vom Fotografieren
hatte, dieses Studio gepachtet, nur um im Hotel über eine
Basis zu verfügen, von der aus er überallhin kriechen und
seine Tentakeln in alle Richtungen strecken konnte. Er war
mit zwei Frauen verheiratet und mit einer dritten liiert. Seine
nächtlichen Abenteuer liess er sich einiges kosten, ebenso
seine Vorliebe für in buntem Zellophan verpackte Drogen.
Bei den Honoraren für die Fotografen, die r ihn arbeiteten,
war er allerdings äusserst knauserig.

Ahmed Mourad
Vertigo

Thriller aus Kairo

Aus dem Arabischen von Battermann, Christine


Lenos Pocket 197
Taschenbuch
ISBN 978-3-85787-797-1
Seiten 398
Erschienen 3. August 2018
€ 14.90 / Fr. 20.00

Ein beeindruckendes Generationenporträt aus dem Ägypten der Gegenwart.
— Alex Rühle, Süddeutsche Zeitung

Achmad, Gesellschaftsfotograf in einem exklusiven Kairoer Hotel, wird Zeuge, wie ein Freund bei einem Attentat auf zwei rivalisierende Geschäftsleute in der Bar Vertigo brutal ermordet wird. Es gelingt ihm, das Geschehen mit der Kamera festzuhalten, bevor er sich unerkannt vom Tatort entfernen kann. Das brisante Material spielt er einer Zeitung zu, deren Chefredakteur eine wichtige Rolle im alles durchdringenden Geflecht aus Korruption, Intrigen und Klientelpolitik spielt. Unversehens verfängt Achmad sich in diesem Netz, das bis in höchste Kreise reicht. Er sieht sich gezwungen unterzutauchen, denn seine skrupellosen Gegner schrecken vor nichts zurück.

Mit Vertigo begründete Ahmed Mourad 2007 das Genre des Politthrillers in Ägypten. Das Buch wurde 2012 als Fernsehserie verfilmt.

Pressestimmen

Faszinierend sind für europäische Leser die Einblicke, die Mourad in die Seelenverfassung seiner Generation gibt: Es sind die gut ausgebildeten, aber frustrierten Zwanzig- bis Dreissigjährigen, die sich ein paar Jahre später auf dem Tahrir-Platz versammeln werden, um die Paschas zu stürzen.
— Tobias Gohlis, Die Zeit
Mourad zeichnet in seinem Kairo-Krimi »Vertigo« ein beeindruckendes Generationenporträt aus dem Ägypten der Gegenwart.
— Alex Rühle, Süddeutsche Zeitung
Absolut lesenswert
— Ulrich Noller, Westdeutscher Rundfunk
Ein spannender Politthriller, der Einblicke in die Machtstrukturen und Mentalitäten Ägyptens bietet.
— Tobias Gohlis, Radio Bremen
Achmad ist ein Society-Fotograf, immer auf der Jagd nach den Reichen und Schönen im sonst armen Ägypten. Als er in einer Bar Augenzeuge eines brutalen Mordes wird, wird er plötzlich selbst zum Gejagten.
— Südwestrundfunk
Ein rasanter, blutiger Thriller, der die gierigen, schäbigen und korrupten Geschäftsleute und Politiker entlarvt, die ihren Reichtum mit der Ausbeutung der Armen machen. Die Story traf einen Nerv in Ägypten, und das Buch wurde zum Bestseller. … »Vertigo« ist bewusst ein an Hitchcock gemahnender Titel, das Buch ist gespickt mit Anspielungen auf Hollywood.
— The Guardian