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Lenos Verlag
Florianne Koechlin
Schwatzhafte Tomate, wehrhafter Tabak
Pflanzen neu entdeckt
Erste Auflage 2016
Copyright © 2016 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Thomas Dinner, Basel
Umschlagbild: Florianne Koechlin
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 472 7
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Schwatzhafte Tomate, wehrhafter Tabak
Inhalt
Vorwort 9
Die Limabohne kommuniziert – aber wie? 15
Von Duftvokabeln und Zeichen 27
Der wehrhafte Kojotentabak 37
Die fruchtbare Oase im Wurzelstock 47
Pflanzen riechen, schmecken, sehen, tasten.
Und eventuell hören sie auch 55
Das versteckte Sozialleben der Pflanzen 65
Straucherbse bewässert Fingerhirse 75
Sind Pflanzen intelligent? 95
Die »biologische Kränkung des menschlichen
Narzissmu 113
Ein Garten Eden in garstiger Höhe 125
Das Heilpflanzenparadies von Kerala 143
Monokulturen im Kopf 155
Die Würde des Kopfsalats 169
Pflanzen neu entdecken.
Rheinauer Thesen zu Rechten von Pflanzen 181
Anmerkungen 191
Bücher zum Thema 201
Referenzen 203
Textnachweis 210
Bildnachweis 211
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Vorwort
Pflanzen unterhalten lebhafte Beziehungen mit ihrer Um-
gebung; sie warnen sich gegenseitig mit Duftstoffen, locken
gezielt Nützlinge an, koordinieren oft sogar ihr Verhalten.
Pflanzen erinnern sich an vergangene Ereignisse und ler-
nen aus diesen Erfahrungen. Sie erkennen und protegieren
Verwandte, konkurrenzieren Fremde und bilden Allianzen.
Unter dem Boden bilden sie umfangreiche Netzsysteme aus
Wurzeln und Pilzen, über die sie Nährstoffe und sogar Infor-
mationen austauschen ein »Internet der Pflanzengemein-
schaften«, dessen Ausmasse sich noch nicht erahnen lassen.
Manche Forscher halten sie gar für intelligent.
Mich hat diese phantastische Welt der Pflanzen in den
Bann gezogen; ich besuchte in den letzten zehn Jahren zahl-
reiche Forscherinnen und Wissenschaftler, Bäuerinnen und
Philosophen in ganz Europa, aber auch in Indien, Kenia
und Ägypten. Schwatzhafte Tomate, wehrhafter Tabak ist ein
Fazit dieser zehn Jahre und enthält überarbeitete ältere so-
wie neue Texte. Das wirklich Faszinierende ist, dass da Jahr
r Jahr ein neues, sehr viel komplexeres Bild der Pflanzen-
welt entsteht. Ein Wissenschaftler meinte mir gegenüber:
Je mehr wir forschen, desto mehr nimmt nicht etwa unser
Wissen, sondern vor allem unser Nichtwissen zu.
Was aber bringt dieses Wissen, dass Pflanzen rege kom-
munizieren und hervorragende Networkerinnen sind? Zum
Beispiel r unsere Ernährung? Denkbar wäre eine Land-
wirtschaft, welche die stupenden Fähigkeiten von Pflanzen
besser ausnutzt, den Boden fruchtbar werden lässt, mit den
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endlichen Ressourcen sehr sorgsam umgeht und auch noch
mehr Ertrag abwirft. Ist eine solche Vision bloss frommes
Wunschdenken oder eine realistische Option r eine zu-
kunftsfähige Landwirtschaft? Deren Herausforderungen
sind gigantisch: Klimaextreme, Ressourcenknappheit, ero-
dierte Böden und eine wachsende Bevölkerung. Und warum
werden Pflanzen in unserer Gesellschaft so anders bewertet
als Tiere? Zumindest »höhere« Tiere gelten nicht mehr als
Sachen, sie haben gewisse Rechte: Es gibt Vorschriften über
artgerechte Tierhaltung. Die Frage bleibt, ob nicht auch
Pflanzen mehr Respekt verdienen und ob nicht auch sie
Rechte haben sollen.
Florianne Koechlin, Juli 2016
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Die Limabohne kommuniziert – aber wie?
Am Max-Planck-Institut r chemische Ökologie in Jena
untersucht eine Gruppe um Wilhelm Boland die Kommu-
nikationsfähigkeiten der kleinen Limabohne. Ich besuchte
ihn vor ein paar Jahren an seinem Arbeitsort.
Pflanzen, sagt er, besässen ein grosses Repertoire unter-
schiedlicher Düfte, mit denen sie mit ihrer Umgebung
kommunizierten. »Bis-
her kennen wir über
tausend Duftstoffver-
bindungen, es können
auch mehr sein.«
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Er
sieht mein Staunen und
relativiert: »Die kom-
men aber nicht alle in
einer Pflanze vor. Es gibt
einen Grundstock von fünf bis zehn chemischen Duftstoff-
verbindungen, die allen Pflanzen gemein sind. Jede Pflanze
kann zusätzlich eine grosse Zahl an Spurenkomponenten
herstellen.« Könnte man also sagen, dass es eine pflanzliche
Grundsprache gibt und dazu viele Dialekte kommen, die
r jede Pflanzenart charakteristisch sind? Wilhelm Boland
lacht. Das sei vielleicht etwas übertrieben, aber ja, so könne
man das sehen. Wichtig sei, fährt er fort, wie und in welchen
Mengen die Duftstoffe miteinander vermischt werden. Die
verschiedenen »Dialekte« ergeben sich also durch leicht un-
terschiedliche Rezepturen der chemischen Duftmoleküle.
Wilhelm Boland
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Ein gutes Beispiel hierfür sei die Limabohne. Wilhelm
Boland erzählt: Wenn eine Raupe an einem Blatt zu fressen
beginnt, passiert vieler-
lei. Bereits die mechani-
sche Beschädigung setzt
eine Duftstoffwolke frei.
Diese warnt die ganze
Pflanze vor der drohen-
den Gefahr; alle Blätter
beginnen mit der Pro-
duktion von Abwehr-
stoffen. Das Duftstoffgemisch sei eine Art »Expresshighway«
der Information, meint er, es ermögliche eine blitzschnelle
Informationsverbreitung. Auch Nachbarpflanzen verstehen
die Botschaft und beginnen mit Verteidigungsmassnahmen.
»Das ist nur die erste Abwehrstrategie«, sagt er, »wei-
tere folgen sogleich. Nach drei bis vier Stunden produziert
die Limabohne ein neues Duftbouquet, mit dem sie gezielt
einen tzling herbeilocken kann, der den Frassfeind be-
kämpft. Sie ruft also quasi ihren ›Bodyguard. Hochinteres-
sant ist nun, dass die Limabohne nicht nur mitteilen kann,
dass sie verletzt ist, sie sagt auch ganz genau, wer sie verletzt
hat.« Bei Spinnmilbenbefall locke sie mit speziellen Düften
Raubmilben herbei, welche die Spinnmilben fressen. Wird
die Limabohne von Raupen angegriffen, sendet sie eine et-
was andere Parfumvariation aus, die Schlupfwespen anzieht.
Diese legen ihre Eier in die Raupen. Aus den Eiern schlüpfen
Wespenlarven, welche die Raupen von innen her auffressen.
Woran aber merkt die Limabohne, dass sie von einer
Spinnmilbe angegriffen wird und nicht von einer Raupe?
Limabohne
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Das erkenne sie am Speichel der Insekten, sagt der Forscher.
»Wir kennen inzwischen zahlreiche chemische Verbindun-
gen des Insektenspeichels, anhand deren die Pflanze genau
feststellen kann, um welchen Feind es sich handelt.« Auch
andere Pflanzen können das; von der Tomate zum Beispiel
sind ganz ähnliche Abwehrstrategien bekannt.
Die Pflanzen »schmecken« also am Speichel, wer gerade
dabei ist, an ihren Blättern zu fressen. Dann produzieren sie
den Duftstoff, der den passenden »Bodyguard« anlockt. Ein
grossartiges Kommunikationskunststück!
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Limabohnen besässen noch weitere elegante Abwehrstra-
tegien, erzählt Wilhelm Boland. Viele produzieren Toxine
(cyanogene Glucoside), welche die Frassfeinde töten nnen.
Zudem stellen sie gleich nach einem Angriff in den Ansatz-
stellen zwischen Stängel und Blattstiel Nektar her. Übli-
cherweise wird Nektar nur in den Blüten gebildet, um Be-
stäuber anzulocken. Der Extranektar in diesen Ansatzstellen
zieht patrouillierende Ameisen an. Diese sind ausgezeich-
nete Verbündete: Sie machen Jagd auf viele Frassfeinde
etwa Raupen, kleine Käfer und andere Insekten. Ameisen
sind Generalisten. Als Belohnung erhalten sie Nektar.
Die Pflanze besitzt also ein ganzes Arsenal an Abwehr-
strategien. Versagt eine davon, nutzt sie eine andere. »Ihr
Geheimrezept ist die Vielfalt«, sagt Wilhelm Boland, »und
das ist auch nötig. Sie können auf die Limabohne fast jeden
Frassfeind setzen er beginnt zu fressen. Nur Läuse lieben
sie nicht, wir wissen nicht, warum.«
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Was aber teilen sich Pflanzen sonst mit, ausser dass sie
sich warnen und Nützlinge anziehen? Da gebe es natürlich
die Duftstoffkommunikation mit den Bestäubern, meint
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Wilhelm Boland. Pflanzen nnten sich zudem gegenseitig
im Wachstum fördern oder hemmen, auch dazu würden sie
die Duftsprache benutzen.
Bekanntes Beispiel ist der Wüstensalbei. Um ihn herum
gibt es immer einen fast pflanzenleeren Raum. Der Wüs-
tensalbei hindert andere Pflanzen am Wachsen, und zwar
mit Hilfe eines speziellen Duftstoffgemisches, das gut un-
tersucht ist. Darin enthalten sind Methyljasmonate und Jas-
mon sowie kurzkettige, ungesättigte Ketone. Diese Duft-
stoffe, die auch in der Parfumindustrie verwendet werden,
haben je nach Zusammenhang eine unterschiedliche Be-
deutung: Mal regen sie die Pflanzen zur Abwehr an, mal
dienen sie dazu, Nachbarpflanzen vor einer Raupeninvasion
zu warnen. Hier aber setzt der Wüstensalbei sie ein, um das
Wachstum anderer Pflanzen zu behindern.
»Der Punkt ist«, sagt Wilhelm Boland, »dass dieselbe
Duftstoffvokabel bei einer anderen Pflanze in einem an-
deren Kontext eine ganz andere Funktion haben kann.«
Nach einer Pause meint er: »Es ist beliebig kompliziert,
wie eigentlich immer. Und wir sind erst ganz am Anfang.«
Nochmals eine Pause, dann sagt er: »Pflanzen strukturie-
ren ihre Umwelt mit Hilfe von Duftstoffen und Kommu-
nikation.«
Ich schaue aus dem Fenster auf einen kleinen Wald. Je-
der dieser Bäume strukturiert also seine Umgebung mit
Duftstoffen und wird selbst von anderen strukturiert. Jeder
Baum wird durch Kommunikation zu dem, was er ist. Je-
der Baum, jede Pflanze ist Kommunikation.
Der Forscher unterbricht mein Sinnieren. Interessant sei
auch, sagt er, dass Wildpflanzen im Allgemeinen über ein
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grösseres Vokabular verfügten als gezüchtete. So produzier-
ten wilde Baumwollpflanzen bis zu zehnmal so viele Duft-
stoffe wie ihre gezüchteten Verwandten. Nutzpflanzen sind
über Jahrhunderte auf grossen Ertrag hin gezüchtet worden.
Man achtete nicht auf die Kommunikationsfähigkeit einer
Pflanze. Die ging oft verloren. »Doch vielleicht ergibt es für
das Ökosystem Sinn, auf solche Kommunikationswege zu-
rückzugreifen. Vielleicht haben wir mit dem System riesi-
ger Monokulturen einen Kardinalfehler begangen da ist
die Duftproduktion gänzlich überflüssig geworden. Doch es
nnte sich bei der chtung von Pflanzen lohnen, darauf
zu achten, dass ihre Abwehrstrategien nicht auf der Strecke
bleiben. So liesse sich der Einsatz von Schädlingsbemp-
fungsmitteln reduzieren.«
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Und wie funktioniert die Duftstoffkommunikation
auf der Ebene der Zellen? Wie zum Beispiel »riecht« eine
Pflanze? »Das wissen wir nicht«, sagt Wilhelm Boland.
»Wenn wir eine Limabohne einer bestimmten Duftstoff-
wolke aussetzen, können wir in den Blättern elektrische
Reize messen. Auch beginnt sie sogleich, zwischen Stängel
und Blattstielen Nektar zu produzieren. Sie zeigt also eine
Reaktion. Doch da ist unser Wissen bereits zu Ende. Wir
haben keine Vorstellung davon, wie eine Pflanze riecht.«
(Auch heute, acht Jahre nach meinem Besuch in Jena, ist
dies immer noch ein Rätsel, wie Wilhelm Boland auf An-
frage bestätigt.)
Beim anschliessenden Rundgang durch die Gewächshäu-
ser, am anderen Ende des Gebäudekomplexes, spazieren wir
vorbei an langen Reihen mit Limabohnen und kommen zu
Akazienbüschen. Ihre harten, manchmal fingerlangen Dor-

Florianne Koechlin
Schwatzhafte Tomate, wehrhafter Tabak

Pflanzen neu entdeckt

LP 203
Paperback
ISBN 978-3-85787-803-9
Seiten 185
Erschienen 29. Januar 2019
€ 19.20 / Fr. 22.00

Ein Buch über die phantastische Welt der Pflanzen, die sich gegenseitig mit Duftstoffen warnen, Nützlinge anlocken und sogar ihr Verhalten koordinieren

Pflanzen unterhalten lebhafte Beziehungen mit ihrer Umgebung; sie warnen sich gegenseitig mit Duftstoffen, locken gezielt Nützlinge an, koordinieren oft sogar ihr Verhalten. Pflanzen erinnern sich an vergangene Ereignisse und lernen aus diesen Erfahrungen. Sie erkennen und protegieren Verwandte, schikanieren Fremde und bilden Allianzen. Unter dem Boden bilden sie umfangreiche Netzsysteme aus Wurzeln und Pilzen, über die sie Nährstoffe und sogar Informationen austauschen – ein »Internet der Pflanzengemeinschaften« von ungeahnten Ausmassen. Manche Forscher halten sie gar für intelligent.

Florianne Koechlin hat diese phantastische Welt der Pflanzen in den Bann gezogen, die Biologin besuchte in den letzten Jahren zahlreiche Forscherinnen und Wissenschaftler, Bäuerinnen und Philosophen rund um die Welt. In ihrem Buch, das sowohl neue als auch aktualisierte ältere Texte enthält, zieht sie ein Fazit.

Besonders faszinierend ist, dass Jahr für Jahr ein neues, sehr viel komplexeres Bild der Pflanzenwelt entsteht. Diese Erkenntnisse bergen ungeahnte Möglichkeiten für eine Landwirtschaft von morgen. Und da stellt sich die Frage unserer Verantwortung den Pflanzen gegenüber neu.