LENOS
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Lenos Verlag
Blaise Cendrars
Rhapsodie der Nacht
Aus dem Fransischen
von Giò Waeckerlin Induni
Der Verlag dankt dem Migros-Kulturprozent und der Schweizerischen
Kulturstiftung Pro Helvetia für die Unterstützung bei der Herausgabe
dieses Buches.
Die Übersetzerin
Giò Waeckerlin Induni wuchs als Italienisch-Schweizerin in Zürich auf
und lernte früh, zwischen Sprachen und Kulturen zu wandern. Nach aus-
gedehnten Auslandsaufenthalten Übersetzerausbildung in der Schweiz,
in Deutschland und in Frankreich. Ihr ganz besonderes Interesse gilt
literarischen Einzelgängern. Zu den von ihr übersetzten Autorinnen und
Autoren gehören, neben Blaise Cendrars, Bernardo Atxaga, Nicolas Bou-
vier, Patric Chamoiseau, Gisèle Pineau, Romesh Gunesekera, N. Scott
Momaday, Dai Sijie und Isabelle Eberhardt. r ihre Arbeit wurde Giò
Waeckerlin Induni mit dem Basellandschaftlichen Kulturpreis 1998 in
der Sparte Literatur ausgezeichnet.
Titel der französischen Originalausgabe:
Le Lotissement du ciel
Copyright © 1949 by Editions Denoël, Paris
Copyright © der deutschen Übersetzung
2008 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Foto: studio mm paris (La Tour Eiffel illuminée)
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 383 6
Inhalt
Warum ich Rhapsodie der Nacht geschrieben habe 7
DAS WELTGERICHT 11
DER NEUE SCHUTZHEILIGE DER FLIEGEREI
I. Der Rückwärtsflug 33
II. Das Wunder des Jahres 1000 123
III. Die Liebesglut, zum Sehnsuchtsbrand entfacht 201
Anmerkungen (für den unbekannten Leser) 239
DIE PARZELLIERUNG DES HIMMELS
RHAPSODIE DER NACHT
(Der Eiffelturm des Himmels)
I. Rive gauche – Linkes Ufer 247
II. Rive droite – Rechtes Ufer 271
III. Zwischen Bergen – zwischen Welten 283
IV. Der Kohlensack 289
V. Die Welt ist meine Vorstellung 293
VI. Die Nacht 295
VII. Die Schatten in der Dunkelheit 303
VIII. Die animischen Tiere 331
IX. Die sich regenden Wesen 349
X. Die Camera obscura der Vorstellungskraft 371
XI. Realität 397
XII. Ein Traumwandler 403
XIII. Der Roman des Morro Azul 425
XIV. Banzo! 447
XV. Und darüber der freie Himmel 461
Anmerkungen (für den unbekannten Leser) 469
Anhang (r den unbekannten Leser) 479
Bibliographische Angaben 485
»Die Rhapsodie der Erinnerung« von Peter Burri 495
7
Warum ich Rhapsodie der Nacht geschrieben habe
Auf diese Frage möchte ich mit einer anderen Frage antwor-
ten: Warum singen die Vögel?
Colette, die von ihrem Fenster aus die gurrenden Tau-
ben und die fröhlich tschilpenden Sperlinge im Hof des Pa-
lais-Royal betrachtete, soll einmal ausgerufen haben: »Die
grösste Ungerechtigkeit der Schöpfung ist doch wohl, dass
manche Wesen mit Flügeln geschaffen worden sind.«
In meinem Buch wimmelt es von Vögeln, von Flügeln,
Engeln, Heiligen, Kindern, Blumen, Licht, Tagträumen …
Aber auch Fledermausflügel kommen darin vor und all die
grauenerregende Fauna und die furchterregende Flora der
Nacht, doch ich musste zu einem Ende kommen, denn ich
hätte am liebsten noch ein paar Geschichten von Schlitzoh-
ren und Schelmen hinzugefügt, aber mein Buch war schon
übervoll, obschon ich noch vieles zu erzählen gehabt hätte.
Nach Auf allen Meeren geht die Reise weiter, jedoch auf
den Bahnen einer inneren Welt. Es war mir ein Bedürfnis.
Ich möchte den jungen Menschen von heute sagen, dass
sie sich der Tatsache bewusst sein sollen, dass man sie be-
trügt, dass das Leben kein Dilemma ist und dass zwischen
den zwei entgegengesetzten Ideologien, zwischen denen man
sie eine Wahl treffen heisst, das Leben liegt, das Leben mit
seinen wunderbaren, aufhlenden Widersprüchen, das Le-
ben und seine unbegrenzten glichkeiten, das Leben mit
seinen Absurditäten, die viel amüsanter sind als der Unsinn
und die Platitüden der Politik, und dass sie sich weder von
der einen noch von der anderen Seite vereinnahmen lassen
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dürfen und sie sich r das Leben entscheiden müssen trotz
der Verlockung des individuellen oder kollektiven Suizids
und dessen verheerender wissenschaftlicher Logik.
Es gibt keine andere mögliche Wahl.
Leben …
Blaise Cendrars
(Saint-Segond, 1. Mai 1949)
UNGERECHTIGKEIT
Colette schaute von ihrem Fenster aus den gurrenden Tauben und den
fröhlich tschilpenden Sperlingen im Hof des Palais-Royal zu. Und sie
meinte: »Die grösste Ungerechtigkeit der Schöpfung ist doch wohl,
dass manche Wesen mit Flügeln geschaffen worden sind.«
Aux Ecoutes, Juni 1948
Der Irren von Saint-Sulpice gewidmet
DAS WELTGERICHT
Nur die Vögel, die Kinder und die Heiligen sind interessant.
O. W. Milosz an Armand Godoy
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1
Der Anker wurde eingeholt.
»Godverdam, wenn Sie dieses Drecksbiest an Bord neh-
men, sehe ich mich gezwungen …«
Das »Drecksbiest«, wie der Zahlmeister durch sein Me-
gaphon schimpfte, war ein prächtiger Ameisenr, ein über
zwei Meter grosser tamanduá-bandeira, der mich vor lauter
überschwenglicher Zärtlichkeit wiederholt fast ins Wasser
geschmissen hätte, und ich, schwankend auf der obersten
Stufe des Fallreeps des auslaufenden Passagierschiffes, das
die Hafenschlepper bereits abdrehten, bevor es Kurs auf das
offene Meer nahm, und das Riesenbiest mit seinem grotes-
ken bannerförmigen Schwanz und seiner noch groteskeren
langen Nase, die einer umgestülpten Kapuze glich, aufrecht
im Heck der Piroge seines Besitzers, eines einäugigen alten
Negers, der alle Mühe hatte, sein Boot durch das Brodeln
des schlammigen, von den Schiffsschrauben bereits auf-
geschäumten Kielwassers zu rudern, einer Gischtlinie von
Pernambuco bis Cherbourg, eine achtzehn Tage dauernde
Überfahrt.
Ich blickte hinauf.
Direkt über mir bllte der Zahlmeister fluchend und
drohend in sein Megaphon, er mochte noch so laut schimp-
fen, im Zischen des aus der eingeholten Ankerwinde schies-
senden Dampfes und beim dritten Ruf der Schiffssirene,
dem herzergreifenden letzten Tuten, verstand man kein
Wort. Alles zitterte, schlingerte, strudelte, längs der Reling,
links und rechts vom Zahlmeister, die hochroten Gesich-
ter der Passagiere, die ein plötzlich schräg durch die Ritzen
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der über dem Deck gespannten Planen fallender Sonnen-
strahl hinterrücks pfte und versenkte, derweil der hohe
weisse Ozeandampfer sich zur Seite neigte, die Kupferbe-
schläge der Bullaugen aufblitzten, verloschen wie eine Büh-
nenbeleuchtung, das Fallreep, an das ich mich klammerte,
plötzlich eingezogen wurde, der Ameisenbär mit dem Blick
meinem Aufstieg folgte und seine endlos langen Arme mit
den riesigen gebogenen Krallen nach mir ausstreckte, die
Piroge ganz knapp unter der Treppe hindurchglitt und ich
die Stimme des alten Negers rte: »Nehmt ihn, Senhor.
Für 300 000 Reais. Ist geschenkt. Bicho tão bonito! Ein so
braves Tier …!«
Jetzt war es zu spät. Wir nahmen bereits Kurs aufs offene
Meer. Die Piroge schaukelte weit hinter uns auf den Wel-
len. Der Neger hatte zu lange gefeilscht, er brachte es nicht
übers Herz, sich von dem Tier zu trennen. Das eingezogene
Fallreep langte auf Höhe der Reling an, ein grinsender Ma-
trose reichte mir die Hand, und ich sprang auf die Brücke.
»Es ist immer das gleiche mit Ihnen, Herr Cendrars«,
sagte der Zahlmeister, »Sie hätten sich das Genick brechen
und ins Wasser fallen nnen. Der Kapitän wird mir die Le-
viten lesen. Doch Gott sei Dank! haben Sie das Drecksbiest
nicht mit an Bord genommen.«
Der Zahlmeister hatte recht. Ich hätte auf der Überfahrt
die ganze Besatzung in die Laderäume auf Ameisenjagd
schicken müssen, denn womit sonst hätte ich das skurrile
Urwaldtier gefüttert, das sich nur von Ameisen und ihren
Eiern ernährt? Das zahnlose Tier, das sich linkisch auf den
Fussballen fortbewegt, die gebogenen Krallen nach oben
gerichtet, steckt im Wald seinen langen trichterförmigen
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Kopf bis zu den Ohren in einen Ameisenhaufen und wedelt
und schwenkt den Schwanz wie eine Fahne, was Ausdruck
von tiefstem Behagen ist, leckt mit seiner fadendünnen,
wurmförmigen klebrigen Zunge ich weiss nicht wie viele
Meter blitzsauber, geifert und sabbert einen zähen zucke-
rigen Speichel, auf den die Ameisen begierig sind, und wenn
Hunderte und Tausende wimmelnde Ameisen an seiner
Zunge kleben, braucht dieses seltsame Tier bloss mit einer
Zehe auf seinen Nabel zu drücken, um eine geheime Fe-
der auszuklinken, die mit unglaublicher Geschwindigkeit
seine Zunge aufspult wie eine Angelschnur. Oft begegnet
man dem Tier, wie es am Fusse eines in allen Richtungen
durchlöcherten Termitenbaus auf seinem Hinterteil sitzt
und genüsslich blinzelnd schluckt. Der Grosse Ameisenbär
ist ein Faulpelz erster Güte und im übrigen völlig harmlos,
doch man darf ihm ja nicht um den Hals fallen, denn sei-
ne Umklammerung, ein schlichter Reflex, ist tödlich, seine
Kraft, von der er keine Ahnung hat, ist unwahrscheinlich,
und seine langen, gewölbten, nutzlosen Krallen sind scharf
wie Buschmesserklingen. Er ist ein Elegiker. Er lässt sich
leicht hmen. Ich habe in etlichen Fazendas welche gese-
hen. Gewisse Exemplare dieser umherstreunenden Eremi-
ten erreichen von der Schnauzenspitze bis zur Schwanzspitze
eine Länge von drei Metern. Ihr Borstenfell ist lang und
hängt herab, bräunlich und stellenweise dunkel gelockt wie
das einer Kaschmirziege. Doch nie zuvor hatte ich ein so
prächtiges Exemplar gesehen wie den tamanduá, den ich in
Pernambuco zurückgelassen hatte. Ich werde ihm zeit mei-
nes Lebens nachtrauern, denn ein derart aussergehnliches
Tier als Gefährten zu haben öffnet dir die Augen auf die
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Geheimnisse der Schöpfung und lässt dich mit dem Finger
das Absurde der ganzen Evolution der Lebewesen berüh-
ren. Einen Gefährten zu haben, der dir das Herz wärmt,
und zudem einen anhänglichen Weggefährten wie ihn, hält
einen von morgens bis abends bei Laune. Vielleicht ist er
Gott selbst. Moral und Intelligenz gehen ihm ab, und sei-
ne Manieren sind schwer nachvollziehbar. Niemand hat mir
sagen nnen, wie seine Exkremente beschaffen sind und
ob er nicht »Kötelchen« kackt wie die Ziegen. Die Ameisen
jedenfalls essen ihre.
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Die GELRIA war einer jener richtigen Ozeandampfer, die
r die Hochseeschiffahrt gebaut worden waren und von
denen man vor dem Zeitalter der Luxusliner, der Kon-
kurrenz der Schiffahrtsgesellschaften, des Wettstreits der
Nationalismen, der mondänen Propagandakreuzfahrten,
des Snobismus, des Tourismus, vor der Überhandnahme des
modernen Kunsthandwerks im Schiffsbau, des prunkvollen
Innenausbaus und der luxuriösen, Feuersbrünsten geweihten
Ausstattung so viele die sieben Weltmeere durchpflügen
sah und die man immer seltener sehen wird, weil all diese
hoch über der Wasserlinie schaukelnden »Krähennester«,
weil all diese tüchtigen, tapferen alten Schiffe im Ersten und
im Zweiten Weltkrieg versenkt wurden. Sie segelte unter
holländischer Flagge, und ich fühlte mich heimisch an Bord,
und jedermann kannte mich, denn es war das fünfte oder
das sechste Mal, dass ich für die Überfahrt nach Europa die
GELRIA nahm, also hatte ich an der brasilianischen Küste
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auf ihre Vorbeifahrt gewartet, um meine Tiere einzuschif-
fen, denn nur an Bord eines Holländers versteht man es, mit
Tieren umzugehen, und Gasperl, der Bordzimmermann der
GELRIA, bei dem, gemäss der Tradition der alten Schiff-
fahrt, alle Tiere an Bord in Pension waren, kümmerte sich
während der Überfahrt um meine kleinen Schützlinge und
zimmerte ihnen komfortable handliche Kästen und Käfige,
echte Tischlerarbeit, weil er viel Liebe und Geschmack und
einen sechsten Sinn für die Bedürfnisse, die Gewohnheiten
oder den Charakter der Tiere darauf verwandte, aber auch
echten Erfindergeist, denn er baute Verstecke in die sten
und ge ein, doppelte Böden, Abteile, Geheimschubla-
den, dank denen man bei der Ankunft den Zoll überlisten
und die Flaschen weissen Rums und kistenweise gute Zi-
garren einschmuggeln konnte, die ich für meine Freunde in
Paris mitbrachte. Auch meine Tiere brachte ich für meine
Freunde und für meine Freundinnen in Paris mit – und ich
trieb nicht etwa Handel, wie Serrhuis, dieser Dummkopf
von einem Zahlmeister, glaubte, der dem Feilschen um
den prächtigen tamanduá in Pernambuco ein Ende bereitet
hatte –, Pinseläffchen r die Tänzer von Rolf de Marés »Bal-
lets suédois« und Vögel für ein kleines Mädchen, das ich wie
nichts sonst auf der Welt liebte und dem ich jedesmal eines
dieser lebenden Kleinode aus Brasilien mitbrachte.
Doch diesmal hatte ich tatsächlich etwas übertrieben,
und der Zahlmeister hatte hundertmal recht, verstimmt
zu sein und mir zu drohen, er würde mir die Privilegien
entziehen, die ich sonst an Bord genoss. In Rio hatte ich
siebenundsechzig Pinseläffchen eingeschifft, Löwenäffchen
mit sauerstoffblonder hne, eine vom Aussterben bedrohte

Blaise Cendrars
Rhapsodie der Nacht

Aus dem Französischen von Giò Waeckerlin Induni


Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-85787-383-6
Seiten 507
Erschienen 3. März 2008
€ 25.00 / Fr. 44.00

Im Mittelpunkt dieses Romans stehen Cendrars' Begeisterung für die Aviatik und seine Reisen nach Brasilien, wo er sich in den Jahren zwischen 1924 und 1928 längere Zeit aufhielt und als herausragender Vertreter der neuen französischen Poesie gefeiert wurde. Die brasilianischen Erfahrungen prägen denn den Roman auf vielfältige Weise.

So glaubt er als überzeugter Frankophiler am Himmel eine Sternkonstellation beobachten zu können, die in ihren Umrissen dem Eiffelturm gleicht. Auf seine Schreiben an wissenschaftliche Gremien in Paris hat er aber nie eine Antwort erhalten. So wie der Eiffelturm plötzlich am Himmel auftauchen kann, scheint in diesem Roman alles in Bewegung. Wer immer es kann, hebt sich nämlich in die Lüfte, am beeindruckendsten tun dies die Heiligen der Kirchengeschichte.

Cendrars erzählt nicht nur von waghalsigen Aviatikern und Heiligen, sondern auch von aussergewöhnlichen Menschen, denen er als Autor begegnet ist. In diesen vielen kleinen und grossen Geschichten entfaltet er ein höchst eindrucksvolles Panorama einer Welt, die mit dem Zweiten Weltkrieg unwiderruflich verlorengegangen ist.

Pressestimmen

Die Ungeheuerlichkeit der Lebensvielfalt zwischen Glücksrausch und Unrat, Faszination und giftgreller Verwundbarkeit, Vitalität und Angst bündelt der Autor hier noch einmal, voll Lust am Fiebrigen, Sinnentrunkenen, Obszönen der nie ausgeschöpften, rauschhaft erlebten Realität.
— Österreichischer Rundfunk
Ein atemberaubendes Buch, das Reisen durch die Welt und die Seele brillant verbindet und Realität und Fiktion gekonnt vermischt.
— Zeitlupe
Sein Leben liest sich wie ein Märchen aus 1001 Nacht. Er hat mit allen Arten von Menschen verkehrt, mit Banditen, Mördern, Revolutionären. Er hat sich nach seinen eigenen Worten in nicht weniger als sechsunddreissig Metiers versucht. Er war zum Beispiel früher einmal Zauberkünstler, er war Perlenkaufmann und Schmuggler, er war Plantagenbesitzer in Südamerika, wo er dreimal hintereinander ein Vermögen verdiente und noch schneller wieder verlor. Aber lesen Sie sein Leben. Es enthält mehr, als das Auge fassen kann.
— Bayerischer Rundfunk